Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
sahen, entschied man sich 1889 für die Bildung eines vierten Senats beim Consiglio di Stato und damit für die Bildung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mehr oder weniger nach französischem Muster.[321] Später folgten weitere Senate, 1971 die Errichtung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte in den Regionen (Tribunali amministrativi regionali). Gegen Entscheidungen des Consiglio di Stato ist allerdings ein revisionsähnliches Rechtsmittel zur Corte di Cassazione eröffnet.[322] Zudem hindert die Errichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit die ordentlichen Gerichte nicht an einer inzidenten Kontrolle von Verwaltungsakten auf ihre Wirksamkeit u.ä.
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Der Sekundärrechtsschutz bei der Verletzung von subjektiven öffentlichen Rechten, Interessen oder vergleichbaren Positionen, d.h. die Gewährung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen, liegt dagegen in den Händen der auch für den Primärrechtsschutz zuständigen Gerichte. Insoweit sind die italienischen Verwaltungsgerichte auch für Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche zuständig, die sich aus einer Verletzung der interessi leggitimi ergeben.[323]
c) Umfassende Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte
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In den meisten europäischen Verwaltungsrechtsordnungen sind verwaltungsrechtliche Streitigkeiten im Wesentlichen eigenständigen, in der Regel allgemeinen Verwaltungsgerichten zugewiesen.[324]
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Archetyp dieser klaren Trennung von ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist Frankreich,[325] auch wenn die ordentliche Gerichtsbarkeit selbst hier nicht vollständig von der Kontrolle der Verwaltung ausgeschlossen ist.[326] Obwohl dies eigentlich den Zielen der Revolutionäre von 1789 widersprach, entwickelte sich rasch eine eigenständige Administrativjustiz, die sich als Teil der Verwaltung verstand und wohl noch immer versteht. Nach diesem Verständnis ist das Richten über die Verwaltung immer noch Verwaltung,[327] auch wenn es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Trennung von „aktiver Verwaltung“ und Verwaltungsgerichtsbarkeit gekommen ist. Diese fand ihren vorläufigen Höhepunkt in dem Gesetz vom 24.5.1872, das dem Conseil d’État neben seiner beratenden Tätigkeit erstmals richterliche Entscheidungsgewalt zuwies und ihm so die Möglichkeit verschaffte, sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte auch als Institution des Rechtsschutzes und als Garant des Legalitätsprinzips zu etablieren.[328]
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Zu dem heutigen dreistufigen Instanzenzug – tribunaux administratifs, cours administratives d'appel, Conseil d'État – sollte die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebaut werden, als auch die Europäisierung weitere Korrekturen erforderte.[329]
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Viele europäische Verwaltungsrechtsordnungen haben sich an dieses Modell mehr oder weniger angelehnt.[330] Nach langem, mehr als ein Jahrhundert andauerndem Hin und Her hat sich auch Griechenland zunächst mit der Gründung des Staatsrats (1928) und dann mit der Verfassung von 1975 für ein (dreistufiges) Modell nach französischem Vorbild entschieden, in dem die Verwaltungsgerichte – mit Ausnahme der Festsetzung einer Enteignungsentschädigung und der dem Rechnungshof zugewiesenen Klagen – für alle verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zuständig sind (Art. 94 Abs. 1 Verf.).[331]
d) Probleme und Entwicklungen
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Da es in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen ein Nebeneinander von ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt, sind Institutionen zur Schlichtung von Zuständigkeitskonflikten erforderlich. In Deutschland etwa ist dies nach dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, in Frankreich das Tribunal des Conflits,[332] in Griechenland der Oberste Sondergerichtshof.[333]
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Eine klare Tendenz, welches der Modelle an Boden gewinnt bzw. verliert, lässt sich derzeit nicht ausmachen.[334] Während die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Frankreich auf dem Rückzug zu sein scheint und insbesondere wesentliche Bereiche des Regulierungsrechts an die ordentliche Gerichtsbarkeit verloren hat,[335] hat sie in Italien durch Entscheidungen des Gesetzgebers, die Ausweitung der interessi leggitimi, durch die Erstreckung des Verwaltungsrechtsschutzes auf Sekundäransprüche und durch das Institut der ausschließlichen Zuständigkeit eher an Boden gewonnen.[336]
2. Grundzüge des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes
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Aus historischer Perspektive bestand ein gewisser Zusammenhang zwischen der Errichtung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit und einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle einerseits und der Zuweisung der Kontrollaufgabe an die allgemeinen (ordentlichen) Gerichte und einer Begrenzung des Rechtsschutzes auf subjektive öffentliche Rechte andererseits. In Deutschland lässt er sich an der Konkurrenz von nord- und süddeutschem Modell festmachen,[337] in Italien an der die Zuständigkeitsverteilung nach wie vor prägenden Unterscheidung zwischen diritti soggetivi und interessi leggitimi.
aa) Individualrechtsschutz
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Jedenfalls in Deutschland, wo sich letztlich die süddeutsche Lösung durchgesetzt hat,[338] in Griechenland,[339] Großbritannien,[340] Italien,[341] Österreich,[342] Portugal,[343] Schweden,[344] der Schweiz[345] und Spanien[346] ist der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz vor allem ein Instrument des Individualrechtsschutzes, das dem Schutz des Bürgers und seiner subjektiven öffentlichen Rechte dient. Dass mit der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungshandlungen auch dem Legalitätsprinzip zum Durchbruch verholfen wird, wird dabei – unbeschadet spezialgesetzlicher Regelungen[347] – als eher willkommene Nebenfolge begriffen. Dazu passt es, dass die Ausgestaltung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle stark an der materiellen Rechtmäßigkeit ausgerichtet ist und verfahrensrechtlichen Rechtspositionen nur ein begrenzter Eigenwert zugemessen wird.[348]
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Die Praxis ist allerdings durch eine kontinuierliche Ausweitung der ursprünglich restriktiv verstandenen subjektiven öffentlichen Rechte, der schutzwürdigen Interessen oder des „standing“ gekennzeichnet. Sie hat ihre Ursache zum einen in der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts und der damit verbundenen Auslegung verwaltungsrechtlicher Regelungen im Lichte der Grundrechte oder äquivalenter Garantien – in Deutschland hat dies angesichts der weiten Schutzbereiche von Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG einerseits zur sogenannten Adressatentheorie geführt, nach der jeder Adressat einer belastenden Verwaltungsentscheidung geltend machen kann, diese sei ohne oder unter Verstoß gegen die gesetzliche Ermächtigung ergangen (sogenannte Freiheit vor gesetzlosem oder gesetzwidrigem Zwang),[349] andererseits zu einem einklagbaren Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, wenn der Bürger ein Tätigwerden der Verwaltung verlangt[350] –, zum anderen im Unionsrecht. Da zu dessen Wirkungsbedingungen die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts gehört,[351] verleiht es auch in großem Umfang Klagerechte.
bb) Objektive Rechtmäßigkeitskontrolle
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Frankreich kennt hingegen keine Dichotomie von Individualrechtsschutz und objektiver Gesetzmäßigkeitskontrolle. Der vom Conseil d’État entwickelte und für die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit bis heute prägende recours pour excès de pouvoir sollte von Anfang an dazu dienen, rechtswidriges Verwaltungshandeln zu sanktionieren, damit die Rechte der Bürger (administrés) gewahrt bleiben.[352] Objektive Rechtmäßigkeitskontrolle und der (reflexartige) Schutz individueller Interessen gehen hier Hand in