Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer
Er misst menschliches Verhalten an den Anforderungen des Rechts und zieht daraus die rechtlichen Schlüsse, die er Rechtsfolgen nennt.
Recht gilt unabhängig davon, ob es befolgt wird. Problematisch wird es allerdings erst im Rechtsstreit, in dem das Gericht den kranken Rechtsfall richten oder schlichten soll. Maßstab ist die gesunde rechtliche Beziehung. Der Normalfall bestimmt das juristische Denken.
Rechtsnormen gelten von Rechts wegen, denn hinter ihnen steht die Zwangsgewalt der staatlichen Gemeinschaft. Darin unterscheiden sie sich von den Verhaltensregeln der Sitte und der Moral.
Die Sitten und Gebräuche einer Gemeinschaft regeln nur den außerrechtlichen, gesellschaftlichen Umgang und Anstand. Verstöße ahndet die Gemeinschaft mit gesellschaftlicher Ächtung. Die „guten Sitten“ ziehen freilich auch dem Recht Grenzen: Verkehrssitte und Handelsbrauch beeinflussen maßgeblich die Vertragsauslegung (§ 157 BGB; § 346 HGB), sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind nichtig (§ 138 BGB), und die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung verpflichtet zum Schadensersatz (§ 826 BGB).
Die Moral oder Sittlichkeit gründet auf Weltanschauung und Religion. Sie verbietet nicht erst die böse Tat, sondern schon den bösen Gedanken. Letzte Instanz ist, soweit vorhanden, das menschliche Gewissen. Wer das Moralgesetz verletzt, büßt es, wenn er gut erzogen ist, mit Gewissensbissen. Der liberale Rechtsstaat verzichtet auf Gewissenszwang und respektiert die freie Gewissensentscheidung.
2. Die Rechtsquellen
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Die Summe aller Rechtsnormen eines Staates bildet seine Rechtsordnung. An ihrer Spitze steht die Verfassung, denn sie bindet Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 1 III, 20 III, 28 GG). Einen Stock tiefer findet man die Gesetze, im Erdgeschoss schließlich die Rechtsverordnungen der Regierung (Art. 80 GG) und die Satzungen der Selbstverwaltungsträger (Art. 28 II GG).
Das geschriebene Recht nennt man positiv, weil der Gesetzgeber es setzt. Das ungeschriebene Gewohnheitsrecht dagegen entsteht aus dem Volke heraus durch lange Übung und allgemeine Rechtsüberzeugung[1]. Entstehungsgrund ist letztlich ein ständiger Gerichtsgebrauch. Prominente Beispiele aus dem Zivilrecht waren die positive Vertragsverletzung und das Verschulden bei Vertragsverhandlungen (jetzt §§ 280 I 1, 241 II, 311 BGB) und ist es noch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (RN 1011).
Verfassung, Gesetz und Rechtsverordnung, Satzung und Gewohnheitsrecht sind nach einem romantischen Bild Rechtsquellen, aus denen das Recht sprudelt. Ob auch die höchstrichterliche Rechtsprechung dazugehöre, ist seit jeher streitig[2]. Der deutsche Jurist neigt dazu, die Frage zu verneinen, denn der Richter ist nur an Gesetz und Recht gebunden, nicht an Präjudizien (Art. 20 III, 97 I GG). Aber das sind Lippenbekenntnisse, bestimmen doch allein die – letztinstanzlichen – Gerichte, was Recht sei. Wenn es zutrifft, dass die Rechtsprechung nicht lediglich aus dem Gesetz herausliest, was der Gesetzgeber hineingelegt hat, sondern den toten Buchstaben des Gesetzes erst zum Leben erweckt, muss man zumindest die richterliche Rechtsfortbildung (RN 15) als Rechtsquelle anerkennen.
3. Objektives und subjektives Recht
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Der Rechtsbegriff ist zweideutig. Er bezeichnet nicht nur das objektive Recht, das aus Rechtsnormen besteht und für alle gilt, sondern auch das subjektive Recht, das aus dem objektiven Recht entsteht und dem Einzelnen die Rechtsmacht verleiht, seine Interessen in bestimmter Weise zu befriedigen (RN 17). Der Weg vom objektiven zum subjektiven Recht führt über die Rechtsanwendung (RN 11), die der Rechtsstaat den Gerichten anvertraut.
Bild 1: Objektives und subjektives Recht
1. Die Abgrenzung der großen Rechtsblöcke
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Die juristische Ausbildung gliedert das geltende Recht in drei große Blöcke: Zivilrecht (Privatrecht), Strafrecht und öffentliches Recht nebst dem zugehörigen Verfahrensrecht. Zwischen Zivil- und Strafrecht gibt es keine Abgrenzungsprobleme. Ob eine Rechtsnorm zum Zivilrecht oder zum öffentlichen Recht gehört, ist gleichfalls leicht festzustellen. Das Zivilrecht besteht aus dem BGB und seinen Nebengesetzen, aus dem Handels-, Gesellschafts und Wertpapierrecht, dem Versicherungsrecht, dem Wettbewerbsrecht und dem gewerblichen Rechtsschutz. Zum öffentlichen Recht gehören vor allem das Verfassungs- und das Verwaltungsrecht. Das Verfassungsrecht regelt die Organisation des Staates und die Grundrechte des Bürgers. Das Verwaltungsrecht organisiert die Verwaltungsträger und regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Verwaltung und Bürger.
Bild 2: Die Rechtsordnung
Schwieriger ist es, im Einzelfall den richtigen Rechtsweg zu bestimmen, denn „bürgerlichrechtliche Streitigkeiten“ gehören nach § 13 GVG vor die Zivilgerichte, „öffentlichrechtliche Streitigkeiten“ nach § 40 I VwGO vor die Verwaltungsgerichte, wenn nicht das Gesetz sie ausdrücklich den Zivilgerichten zuweist. Das aber ist ein prozessuales Problem, das hier nicht darzustellen ist[3].
2. Das allgemeine bürgerliche Recht und das Sonderrecht einzelner Lebensbereiche
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Das bürgerliche Recht ist derjenige Teil des Zivilrechts, der für alle gilt. Es besteht aus dem BGB und seinen Nebengesetzen: EGBGB, AGG, BeurkG, ProdHaftG, ErbbauRG und WEG sowie Teilen des StVG, LuftVG und HaftpflichtG.
Daneben gibt es besondere Gesetze für einzelne Berufsgruppen und Lebensbereiche. Handelsrecht (HGB), Gesellschaftsrecht (AktG, GmbHG) und Wertpapierrecht (WG, ScheckG) bilden das Sonderprivatrecht der gewerblichen Wirtschaft. Das Immaterialgüterrecht schützt Kunsturheberrechte, Erfinderrechte und gewerbliche Schutzrechte (UrhRG, PatG, MarkG). Das Versicherungsrecht regelt die einzelnen Versicherungszweige der privaten Versicherungswirtschaft.
Bild 3: Das Zivilrecht
Das Sonderprivatrecht der abhängigen Arbeitnehmer ist im Kern zwar immer noch im BGB geregelt (§§ 611 ff.), bildet jedoch mit dem kollektiven und dem öffentlichen Arbeitsrecht eine eigene Disziplin mit eigener Gerichtsbarkeit.
1. Die Entstehung des BGB
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Das BGB ist nach zwanzigjähriger Vorarbeit am 18.8.1896 verkündet worden und am 1.1.1900 in Kraft getreten. Heute ist es Bundesrecht (Art. 123 I, 125 Nr. 1 GG). Dem Deutschen Reich von 1871 brachte es die Rechtseinheit im bürgerlichen Recht und beendete eine