Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer
2. Das System des BGB
2.1 Die Kodifikation des allgemeinen Zivilrechts
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Das BGB ist die Kodifikation des allgemeinen Zivilrechts, das für alle Bürger gilt: des Vertrags- und Schadensersatzrechts, der Eigentumsordnung, des Familien- und Erbrechts. Es besteht aus 5 Büchern: Allgemeiner Teil, Recht der Schuldverhältnisse, Sachen-, Familien- und Erbrecht.
Der Allgemeine Teil liefert diejenigen Vorschriften, die für alle übrigen Bücher gelten sollen, soweit dort nichts anderes bestimmt ist. Im Mittelpunkt steht das Rechtsgeschäft.
Das Schuldrecht regelt den vertraglichen Leistungsaustausch, den Bereicherungs- und den Schadensausgleich. Sein Thema ist das Schuldverhältnis, das den Schuldner zur Leistung verpflichtet und den Gläubiger berechtigt, diese Leistung zu fordern. Im Schuldrecht geht es darum, wer von wem was verlangen darf.
Das Sachenrecht hingegen weist die beweglichen und unbeweglichen Sachen bestimmten Personen zu und beantwortet die Frage, wem was gehört. Es handelt von Besitz und Eigentum, von Nießbrauch, Grundschuld und anderen beschränkten dinglichen Rechten.
Familien- und Erbrecht regeln fest umrissene Lebensbereiche, das Familienrecht Ehe, Kindschaft und rechtliche Betreuung, das Erbrecht die Rechtsnachfolge nach dem Tode.
Bild 4: Das System des BGB
Das System des BGB ist die reife Frucht der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts (Savigny, Windscheid), sein Fundament das römische Recht des corpus iuris civilis aus dem 6. Jahrhundert, freilich nicht in seiner ursprünglichen klassischen, sondern in seiner modernen Form, die ihm die Pandektenwissenschaft verpasst hat. Sie hat das römische Recht begrifflich durchgebildet und dem modernen Leben angepasst. Daraus ist der usus modernus pandectarum entstanden, der als gemeines Recht bis 1900 in weiten Teilen Deutschlands gegolten hat.
2.2 Vom Allgemeinen zum Besonderen
Das BGB regelt, vom Familien- und Erbrecht abgesehen, nicht einen Lebensbereich nach dem anderen, sondern das Allgemeine vor dem Besonderen. Am Anfang steht weder das Kaufrecht noch das Eigentumsrecht, sondern Buch 1 „Allgemeiner Teil“ mit allgemeinen Regeln für die folgenden 4 Bücher. Damit nicht genug, hat auch das 2. Buch „Recht der Schuldverhältnisse“ seinen allgemeinen Teil. Auch das Schuldrecht beginnt nicht mit dem Kauf oder der unerlaubten Handlung, sondern mit allgemeinen Regeln für das Schuldverhältnis. Im Sachenrecht ist es ähnlich.
Dieser Gesetzesaufbau ist überaus verschachtelt, das BGB ein gefährliches Labyrinth. Man findet zwar hinein, aber nur schwer wieder hinaus. Wer mit ihm arbeiten will, muss seinen Bauplan kennen, muss wissen, wie die ersten drei Bücher ineinander greifen. Systematisches Verständnis ist hier wichtiger als Detailwissen. Die Ursache der Verständigungsschwierigkeiten ist der Allgemeine Teil. Wenn man heute noch sagt, der Allgemeine Teil ziehe die allgemeinen Regeln vor die Klammer, ist dies wortwörtlich zu verstehen, mathematisch nämlich, wie es dem Denken der Aufklärung entsprach, die sich zutraute, alles in Begriffe fassen und logisch erklären zu können.
Mathematisch mutet auch das ausgefeilte System geschliffener Rechtsbegriffe auf höchster Abstraktionsstufe an, die das BGB auf dem Fundament des Allgemeinen Teils zu wahren Begriffspyramiden auftürmt. Daraus ist die Begriffsjurisprudenz entstanden, die noch daran glaubte, man könne aus den Rechtsbegriffen und Begriffsgebäuden mit zwingender Logik Honig saugen und damit jeden Rechtsfall lösen. Heute rümpft man darüber die Nase und argumentiert mit Interessenlage und ratio legis, vergisst aber leicht, dass Sinn und Zweck einer gesetzlichen Regelung umso klarer hervortreten, je präziser das Gesetz sie formuliert. Exaktes begriffliches Denken kann auch heute noch die meisten Rechtsfälle befriedigend lösen.
Der Zugang zum BGB, das das Allgemeine vor dem Besonderen regelt, wird noch dadurch erschwert, dass der Jurist in umgekehrter Richtung vom Besonderen zum Allgemeinen denkt. Während das BGB den Vertrag (§§ 145 ff.) vor dem Verpflichtungsvertrag (§§ 311 ff.) und diesen vor dem Kauf (§§ 433 ff.) regelt, sucht der Jurist die Lösung eines streitigen Kauffalles zuerst in den Vorschriften über den Kauf, bevor er sich über den Verpflichtungsvertrag zum Vertrag zurücktastet, denn die besonderen Vorschriften gehen den allgemeinen stets vor (lex specialis derogat legi generali).
3. Die Sprache des BGB
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Ein volkstümliches Gesetzbuch war das BGB nie. Seine Verfasser haben, anders als Luther bei seiner Bibelübersetzung, dem Volk nicht aufs Maul geschaut, sondern trocken und farblos formuliert, wie es sich für gelehrte Juristen geziemt. Mit dieser Sprache erreicht das BGB nur die Juristen, nicht das Volk. Dem Laien bleibt es unverständlich. Fraglos hätte man vieles einfacher und verständlicher sagen können. Ein Volkslesebuch wäre daraus nicht entstanden. Moderne Gesetze sind notwendig trocken und farblos, je präziser, desto farbloser. Den Mangel an Volksnähe gleicht das BGB, jedenfalls in seiner ursprünglichen Gestalt, durch ein hohes Maß an Rechtssicherheit aus. Rechtssicherheit aber gewährt nur ein präzise formuliertes Gesetz. Dem Gesetzgeber unserer Tage gelingt dies nicht mehr. Das modernisierte Schuldrecht samt ausuferndem Verbraucherschutzrecht ist vom klaren System und der begrifflichen Schärfe des alten BGB weit entfernt. Das sprachliche Unvermögen des modernen Gesetzgebers aber produziert Rechtsunsicherheit.[4]
4. Das Menschenbild des BGB einst und jetzt
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Das BGB ist ein Kind seiner Zeit, das Produkt der Pandektenwissenschaft vom römischen Recht und des wilhelminischen Kaiserreichs. Erklärte Ziele waren die Rechtseinheit und die Rechtsgleichheit im bürgerlichen Recht. In deutschen Landen galt erstmals ein einheitliches Zivilrecht. Die feudale Gesellschaft des Mittelalters wurde rechtlich durch die bürgerliche Gesellschaft der Freien und Gleichen abgelöst. § 1 drückt dies verschämt so aus, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen mit Vollendung der Geburt beginne. Gemeint ist die Rechtsfähigkeit aller Bürger ohne Ansehen der Person, ihres Alters, Standes oder Geschlechts, das späte Ergebnis der französischen Revolution und des napoleonischen code civil. Das Vertrags- und Vermögensrecht des BGB gründet auf dem wirtschaftlichen Liberalismus. Vertrags-, Eigentums- und Testierfreiheit sind die höchsten Werte. Sie sind zugeschnitten auf den freien und gleichen, vernünftigen und selbstverantwortlichen Bürger, der sich selbst zu helfen weiß und im freien Spiel der Marktkräfte nicht nur sein eigenes Glückt findet, sondern auch noch dem allgemeinen Wohl dient. An der sozialen Lage seiner Zeit hatte das BGB nichts auszusetzen. Der Unternehmer war noch Herr im eigenen Haus. Mit den abhängigen Lohnarbeitern schloss er gewöhnliche Dienstverträge nicht anders als mit seinem Anwalt oder Arzt. Arbeitsvertrag, Tarifvertrag und Arbeitsgericht waren noch Fremdwörter. Für die Armen und Schwachen hatte das BGB kein Herz. Ihnen halfen von Fall zu Fall allenfalls die Generalklauseln von den „guten Sitten“ und von „Treu und Glauben“ (§§ 138, 242).
Das BGB hat nicht nur Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittes Reich, sondern auch noch zwei verheerende Weltkriege überlebt, im Kern erstaunlich unversehrt. Offenbar kann ein technisch ausgefeiltes Gesetz vielen Herren dienen, ganz wie der Jurist, der es formuliert, auslegt und anwendet. Seit 1900 ist das Zivilrecht innerhalb wie außerhalb des BGB immer wieder reformiert worden. Verschont geblieben ist, sieht man vom Verjährungsrecht ab, der Allgemeine Teil. Allem Anschein nach ist er gegen Reformen immun. Wie soll man auch unverzichtbare allgemeine Rechtsbegriffe reformieren. Das Schuldrecht ist kurzlebiger.