Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer

Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen - Kurt Schellhammer


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vorbehalten, die man ausnahmsweise nicht durch Willenserklärung, sondern nur durch Klage ausüben kann.

      Wenn aber Anwälte in den meisten Prozessen über Ansprüche streiten und Richter über Ansprüche entscheiden, bewältigen sie diese Aufgabe nur, wenn sie das System der Anspruchsgrundlagen und Gegennormen kennen und die Beweislastregeln beherrschen.

6. Kapitel Die Behauptungs- und Beweislast

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      Streitige Ansprüche verfolgt man mit der Leistungsklage nach den Regeln der ZPO im Zivilprozess vor dem Amts- oder Landgericht. Dort herrscht der ungeschriebene Beibringungsgrundsatz[30]: Das Gericht ermittelt den Sachverhalt, auf den es rechtlich ankommt, nicht von sich aus, sondern überlässt es den Parteien, die nötigen Tatsachen zu behaupten und im Streitfalle zu beweisen. Was eine Partei behaupten und beweisen muss, wenn sie den Prozess gewinnen will, sagt ihr die gesetzliche Behauptungs- und Beweislast. Sie trennt zwischen Anspruchsgrundlagen und Gegennormen. Im Zivilprozess denkt der Jurist in den Kategorien von Anspruch, Einwendung und Gegeneinwendung, von Regel, Ausnahme und Gegenausnahme. Das ist auch das didaktische Konzept dieses Buches.

      Zu Recht spricht man nicht von einer Beweispflicht, sondern von einer Beweislast. Die Last oder Obliegenheit unterscheidet sich von der Verpflichtung durch die Rechtsfolge. Wer eine zivilrechtliche Verpflichtung verletzt, macht sich leicht schadensersatzpflichtig, weil er fremde Interessen stört. Wer hingegen eine Last oder Obliegenheit missachtet, verletzt nur sein eigenes Interesse und büßt dafür mit unmittelbarem Rechtsverlust. Klassisches Beispiel ist das Mitverschulden nach § 254 I einschließlich der „Schadensminderungspflicht“ nach § 254 II, die ihrem Namen zum Trotz auch nur eine Last oder Obliegenheit ist. Die Behauptungs- und Beweislast wirken genauso.

      Die Behauptungslast ist die Last, im Prozess so viele Tatsachen zu behaupten, als man zum Prozesssieg braucht. Behauptet man zu wenig, ist die Klage oder Verteidigung rechtlich unbrauchbar und der Prozess verloren, bevor er richtig begonnen hat.

      Die Beweislast ist die Last, für streitige, entscheidungserhebliche Behauptungen Beweis anzutreten und zu führen. Wer den nötigen Beweis nicht führt, verliert den Prozess. Denn wenn der Richter sich von der Wahrheit einer streitigen, erheblichen Tatsachenbehauptung nicht überzeugen kann, darf er sein Urteil auf sie nicht stützen, sondern muss gegen die Partei entscheiden, der das Gesetz den Beweis aufbürdet.

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      Eine Behauptungs- und Beweislast gibt es nur für Tatsachen. Rechtsfolgen kann man weder behaupten noch beweisen[31]. Darauf beruht die Arbeitsteilung im Zivilprozess: Die Parteien bringen die Tatsachen, das Gericht zieht daraus die rechtlichen Schlüsse (da mihi factum, dabo tibi ius). Über staatliches deutsches Recht darf das Gericht keinen Beweis erheben, sondern muss die Rechtsfragen ohne fremde Hilfe selbst beantworten (iura novit curia).

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      Obwohl sich die Beweislast erst im Prozess auswirkt, findet man ihre Regeln nicht in der ZPO, denn die Beweislastregeln sind materielles Zivilrecht[32]. Freilich verzichtet das BGB darauf, die Grundregeln der Beweislast zu formulieren. Nur selten nennt es das Kind beim Namen und regelt die Beweislast in den §§ 179 I, 543 IV 2, 2336 III ausdrücklich. Reine Beweislastnormen sind auch die gesetzlichen Vermutungen der §§ 891, 1006, 1117 III, 1362.

      In den allermeisten Fällen jedoch regelt das BGB die Beweislast nur verstohlen zwischen den Zeilen durch Aufbau und Formulierung der gesetzlichen Tatbestände. Jeder Zivilrechtssatz regelt die Beweislast gleich mit, ohne sie auch nur zu erwähnen. Die Methode ist ebenso einfach wie bestechend. Wer im Zivilprozess eine Rechtsfolge geltend macht, braucht eine Rechtsnorm, die Rechtsfolgen der gewünschten Art abstrakt setzt. Jede vollständige Rechtsnorm besteht aus Tatbestand und Rechtsfolge. Die Rechtsfolge aber bekommt nur, wer den Tatbestand erfüllt. Also muss man im Prozess den Tatbestand der benötigten Rechtsnorm mit passenden Tatsachen ausfüllen, sie vor Gericht behaupten und im Streitfall auch beweisen. Das ist das ganze Geheimnis.

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      Im Zivilprozess muss jede Partei die tatsächlichen Voraussetzungen derjenigen Rechtsnormen beweisen, deren Rechtsfolgen sie geltend macht[33]. Falsch ist der Satz, jede Partei müsse ihre Behauptungen beweisen, denn die Beweislast richtet sich nicht danach, was einer behauptet, sondern danach, was einer von Rechts wegen behaupten muss, wenn er Recht bekommen will. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, der sich noch nicht überall herumgesprochen hat.

      Das Zivilrecht regelt subjektive Rechte. Jeder Zivilprozess ist ein Streit um subjektive Rechte. Das Zivilrecht regelt indes nie den gegenwärtigen Bestand eines Rechts, sondern immer nur, wie es entsteht, ausnahmsweise nicht entsteht, erlischt oder gehemmt wird. Deshalb gibt es auch keine Beweislast dafür, dass ein Recht gegenwärtig bestehe. Beweisen kann man nur, dass das Recht früher einmal entstanden ist, ausnahmsweise nicht entstanden, erloschen oder gehemmt ist[34]. Daraus folgt:

      Wer ein subjektives Recht geltend macht, muss die rechtsbegründenden, wer sich gegen das Recht wehrt, die rechtshindernden, -vernichtenden und -hemmenden Tatsachen beweisen. Das ist die Grundregel der Beweislast[35].

      Wer also einen Anspruch erhebt, muss die anspruchsbegründenden, wer den Anspruch bekämpft, die anspruchshindernden, -vernichtenden und -hemmenden Tatsachen beweisen[36]. Die Beweislast unterscheidet deshalb zwischen Anspruchsgrundlagen, die einen Anspruch entstehen lassen, und Gegennormen, die einen Anspruch ausschließen, zerstören oder hemmen.

      Beispiel

      Der Kläger verlangt vom Beklagten die Bezahlung einer Bürgschaftssumme und legt dem Gericht einen unterschriebenen schriftlichen Bürgschaftsvertrag vor. Der Beklagte behauptet, seine Unterschrift sei gefälscht, er habe keine Bürgschaft übernommen. Der Kläger bestreitet es. Wer muss was beweisen: der Kläger die Echtheit oder der Beklagte die Fälschung der Vertragsunterschrift?

      Die Antwort findet man im materiellen Recht. Wer einen Anspruch erhebt, muss die anspruchsbegründenden, der Anspruchsgegner die anspruchsfeindlichen Tatsachen beweisen. Anspruchsgrundlage ist hier § 765 I mit § 766 S. 1, Anspruchsvoraussetzung, neben einer Hauptschuld, die schriftliche Erteilung der vereinbarten Bürgschaftserklärung. Also muss der Kläger beweisen, dass der Beklagte seine Bürgschaftserklärung eigenhändig unterschrieben und dem Kläger erteilt habe (BGH NJW 95, 1683). Der Beklagte muss nichts beweisen, denn sein „Fälschungseinwand“ ist, der Bezeichnung zum Trotz, keine anspruchshindernde Einwendung, sondern nur ein Bestreiten der Echtheit seiner Unterschrift. Auch das Beweisrecht belastet den Kläger mit dem Beweis der Echtheit, weil nach §§ 416, 439, 440 ZPO nur eine unstreitig oder nachweislich echte Privaturkunde beweiskräftig ist und der Kläger ohne eine echte Bürgschaftsurkunde den Prozess nicht gewinnen kann.

      6.1 Die Anspruchsgrundlagen

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      Jede Bestimmung des BGB ist entweder Rechtsgrundlage oder Gegennorm oder Hilfsnorm. Die Rechtsgrundlage regelt,


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