Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
Da es nicht auf die grob fahrlässige Unkenntnis anderer Abteilungen oder externer Stellen, sondern auf die grob fahrlässige Unkenntnis des zuständigen Bediensteten der Regressabteilung ankommt, kann grob fahrlässige Unkenntnis nicht dadurch begründet werden, dass ein Gutachter des MDK ein fehlerhaft einen Behandlungsfehler verneinendes Gutachten erstellt.
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Der MDK-Gutachter ist nicht Kenntnisvertreter der Krankenkasse. Im System der gesetzlichen Krankenversicherung wird der MDK im Rahmen seiner Begutachtungstätigkeit nicht als Organ, Vertreter oder Erfüllungsgehilfe der Krankenkasse, sondern in einem eigenen Pflichtenkreis tätig.[108] Daran ändert nichts, dass der MDK eine von den Krankenkassenverbänden im jeweiligen Bundesland gemeinsam getragene Arbeitsgemeinschaft ist, die als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts oder als Verein verfasst ist. Der MDK ist organisatorisch und rechtlich nicht mit den Krankenkassen verbunden. Es besteht kein allgemeines Aufsichtsrecht der Krankenkassen gegenüber dem MDK oder dessen Mitarbeitern. Der MDK unterliegt auch keinem Weisungsrecht der Krankenkasse im Einzelfall und ist daher auch nicht Erfüllungsgehilfe der Krankenkasse. Vielmehr untersteht der MDK der Aufsicht der für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörde des Landes. Die Ärzte des MDK sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen.
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Entsprechend hat das OLG Frankfurt ein negatives geburtshilfliches MDK-Gutachten aus dem Jahr 2002 nicht ausreichen lassen, den Klägerinnen, Krankenkasse und Pflegekasse eines im Februar 2000 geborenen, schwerstgeschädigten Kindes, Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis zu unterstellen.[109] Die Krankenkasse hatte im Jahr 2001 die Behandlungsunterlagen der Geburtsklinik und der Neonatologie angefordert und die Vorgehensweise durch den MDK begutachten lassen. Der Gutachter des MDK übersah (ähnlich wie ein später von der Familie der Versicherten eingeschalteter Privatgutachter) den Hinweis in einem Gedächtnisprotokoll der geburtsleitenden Ärztin, dass neben einem Wehentropf auch zweimal eine Bolusgabe des wehenfördernden Mittels Oxytocin gegeben wurde – ein im Gerichtsverfahren der Versicherten dann als grob fehlerhaft gewertetes Vorgehen. Das OLG Frankfurt hat die im Jahr 2001 gegebene Kenntnis von den Behandlungsunterlagen (einschließlich des Gedächtnisprotokolls) für den Verjährungsbeginn nicht ausreichen lassen. Und es hat den Fehler des Gutachters des MDK den klagenden Kassen nicht als eigene Fehler zugerechnet und auch klargestellt, dass der MDK nicht Wissensvertreter der Kranken- und Pflegekasse ist. Es hat weiter unterstrichen, dass die Klägerseite nicht verpflichtet war, zur Vermeidung des Vorwurfs grob fahrlässiger Unkenntnis das MDK-Gutachten durch weitere Gutachten überprüfen zu lassen.
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Die ärztliche Gutachtertätigkeit des MDK kann den Krankenkassen also nicht aus einer Vertreterstellung heraus zugerechnet werden. Insbesondere wird der MDK nicht wie ein vom Geschädigten oder vom SVT beauftragter Rechtsanwalt mit der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen in eigener Verantwortung betraut. Diese Kompetenz kommt allein den für die Verfolgung von Regressansprüchen zuständigen Bediensteten der Krankenkasse bzw. Pflegekasse zu. Und diese wiederum sind darauf angewiesen, dass ihnen die erforderliche Kenntnis vermittelt wird, was im Falle eines negativen Gutachtens gerade nicht geschehen ist.[110]
V. Kenntniszurechnung bei einem Wechsel des SVT
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Vertreter von Krankenkassen müssen, wenn nach dem Schadensereignis ein Kassenwechsel stattgefunden hat, in ihrer „Anamnese“ die Zurechnung der Kenntnis der Vorgängerkasse beachten. Kommt es z.B. in einem schweren Geburtsschadenfall nach Ablauf der Elternzeit dazu, dass das zunächst über die Mutter bei der A-Krankenkasse mitversicherte Kind in die Familienversicherung des Vaters bei der D-Krankenkasse wechselt, und hatten Ermittlungen der der A-Krankenkasse vor dem Wechsel dort zu einer Kenntnis geführt, wird diese Kenntnis der D-Krankenkasse (und der bei ihr gebildeten Pflegekasse) ganz unabhängig davon zugerechnet, ob dort tatsächlich Kenntnis vorhanden ist. Der nachfolgende SVT erwirbt die Ersatzforderung, was den eingetretenen Verjährungsbeginn anbelangt, so, wie sie sich bei dem Rechtsübergang befindet.[111]
I. Verjährungshemmung durch außergerichtliche Verhandlungen, § 203 S. 1 BGB
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Mit der Schuldrechtsmodernisierung ist das Institut der Verjährungshemmung, welches zuvor nur für den Bereich der deliktischen Ansprüche in § 852 Abs. 2 BGB a.F. geregelt war, allgemein in das Verjährungsrecht in § 203 S. 1 BGB n.F. überführt worden. Es besteht Einigkeit, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu § 852 Abs. 2 BGB a.F. nunmehr auch nach § 203 S. 1 BGB n.F. gelten. Neu ist hingegen § 203 S. 2 BGB, in welchem es aber nicht mehr um Verjährungshemmung geht, sondern lediglich um eine vom Gesetzgeber gewollte Nebenwirkung der Verjährungshemmung. § 203 S. 2 greift in den Fällen, in denen nach Ende der Verjährungshemmung von der Verjährungsfrist nur weniger als 3 Monate übrig wären. In diesen Fällen wird durch § 203 S. 2 BGB nicht die Verjährungshemmung, sondern die Verjährungsfrist auf 3 Monate nach Ende der Verjährungshemmung verlängert.
1. Beginn der Verjährungshemmung
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Nach der zu § 852 Abs. 2 BGB a.F. ergangenen Rechtsprechung ist der Begriff des Verhandelns weit auszulegen. Es genügt danach jeder Meinungsaustausch über den Schadensfall zwischen dem Berechtigten und dem Verpflichteten, sofern nicht sofort oder eindeutig jeder Ersatz abgelehnt wird. Nicht erforderlich ist, dass eine Vergleichsbereitschaft oder eine Bereitschaft zum Entgegenkommen signalisiert wird. Es reicht aus, dass der Verpflichtete Erklärungen abgibt, die den Geschädigten zu der Annahme berechtigen, der Verpflichtete lasse sich jedenfalls auf Erörterungen über die Berechtigung von Schadenersatzansprüchen ein.[112] Es muss noch nicht einmal über den Anspruch als solchen verhandelt werden. Es reicht bereits, dass der Gläubiger zur Vermeidung von Verjährungsdiskussionen an den Schuldner herantritt und mit diesem in Verhandlungen über einen Verjährungsverzicht eintritt, solange der Verpflichtete sich auf derartige Verhandlungen einlässt.[113]
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Werden aufgrund des Aufforderungsschreibens des Gläubigers Verhandlungen aufgenommen, dann wirkt die Hemmung auf den Zeitpunkt der ersten Geltendmachung des Anspruches, also des Zugangs des ersten Aufforderungsschreibens, zurück.[114] Jedoch wirken neue Verhandlungen nach einem Abbruch oder Einschlafen der Verhandlungen nicht auf den Zeitpunkt der ersten Geltendmachung zurück, sondern auf den Zugang der die neuen Verhandlungen einleitenden Schreiben oder Erklärungen.[115]
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Spezifika für den Arzthaftungsbereich ergeben sich daraus, dass oft mehrere Schuldner in Anspruch genommen werden sollen und gelegentlich unklar bleibt, ob sämtliche Schuldner von der Verjährungshemmung erfasst sind. Darüber hinaus bereitet die Frage des Abbruchs oder des Endes der Verjährungshemmung Schwierigkeiten, insbesondere wenn es darum geht, ob Verhandlungen „eingeschlafen“ sind.
2. Erstreckung der Verjährungshemmung auf angestelltes medizinisches und nicht medizinisches Personal
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Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer eines Krankenhausträgers führen nach Ansicht des OLG Düsseldorf zur der Verjährungshemmung auch gegenüber den dort angestellten, an der Behandlung beteiligten und über das Krankenhaus mitversicherten Ärzten, wenn nach den gesamten Umständen davon auszugehen ist, dass ein für alle Beteiligten eintrittspflichtiger Haftpflichtversicherer bei den Regulierungsverhandlungen mit dem Patienten auch für den verantwortlichen Arzt tätig wird.[116] Enger sieht dies das OLG Jena, welches meint, dass Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer des Krankenhausträgers die Verjährung gegen den behandelnden