Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter

Handbuch Arzthaftungsrecht - Alexander Raleigh Walter


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      Konkret ging es in diesem Fall um die Folgen einer Schulterdystokie unter der Geburt. Die Beklagtenvertreter hatten gemeint vortragen zu dürfen, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten in einem ganz anderen Fall, in welchem es auch um die Folgen einer Schulterdystokie ging, 2006 eine medizinische Bewertung vorgenommen, die in gleicher Weise auf die Umstände des konkreten Falles zutrafen. Auch wenn der andere Fall durch einen anderen Sozius bearbeitet wurde, hätte der Sozius, der den konkreten Fall bearbeitete, die medizinische Fachkenntnis seines Kollegen schon 2006 für seinen Fall nutzbar machen müssen. Mit den Beklagtenvertretern sah das OLG Koblenz darin, dass das nicht geschehen war, eine grob fahrlässige Unkenntnis der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Jahr 2006, die dem Kläger zuzurechnen sei, da seine Prozessbevollmächtigten Wissensvertreter seien.

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      Der BGH hat sich in seiner Entscheidung gegen eine derartige Wissenszusammenrechnung medizinischer Fachkenntnisse einer Kanzlei ausgesprochen. Er weist auf die grundsätzlich anzuerkennende Gepflogenheit hin, innerhalb einer Anwaltssozietät die Bearbeitung der Mandate einzelnen Sozien zur eigenverantwortlichen Erledigung zu übertragen. Auch wenn für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustausches zwischen den Sozien bestehe, könne das für das einzelne Mandat eingebrachte oder erworbene Fachwissen außerhalb von Rechtskenntnissen aus nicht juristischen Wissensgebieten wie beispielsweise der Medizin im Regelfall nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen gehören. Die Vorstellung, in einer Kanzlei mit mehreren Anwälten, die auf Aktivseite Arzthaftungsfälle bearbeiten, könne das in den einzelnen Akten gesammelte medizinische (Halb-)Wissen in einer Art Kenntnis-Pool allen Mandanten zur Verfügung stehen, ist praxisfremd und verkennt die Notwendigkeit interdisziplinärer Bearbeitung arzthaftungsrechtlicher Mandate.

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      Anzumerken bleibt zu der Entscheidung des BGH vom 26.5.2020 noch ein Aspekt, der dort keine Beachtung gefunden hat: Der in das Berufungsverfahren von den Beklagtenvertretern eingeführte Schriftsatz der Klägervertreter mit Parteivortrag aus einem anderem Verfahren hätte nicht zur Erörterung gestellt werden dürfen, zumal Parteivortrag ohnehin nicht als Beleg für medizinische Fachkenntnisse herhalten kann. Die Klägervertreter hätten diesen Parteivortrag detailliert nur unter Verstoß gegen ihre Verschwiegenheitspflichten oder um den Preis eines Parteiverrats zu Lasten des Mandanten in dem anderen Verfahren kommentieren können. Egal ob beide Verfahren von demselben Sozius oder von unterschiedlichen Sozien bearbeitet wurden, muss es als ausgeschlossen angesehen werden, dass eine Kanzlei in einem Verfahren A offenlegt, worauf Parteivortrag in einem Verfahren B beruht – auf tatsächlicher medizinischer Fachkenntnis, auf Internetrecherchen der Eltern des im Verfahren B vertretenen Kindes oder z.B. auf einer nicht zur Vorlage bestimmten gutachterlichen Stellungnahme. Auch ohne die Frage nach einer Wissenszusammenrechnung sollten Klägervertreter sich zu derartigen Hinweisen der Beklagtenvertreter aus anderen Mandatsverhältnissen grundsätzlich nicht einlassen.[62]

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      Die für den Schadenersatzanspruch gegen den Arzt oder Krankenhausträger erforderliche Kenntnis ist in Fällen unzureichender Risikoaufklärung oder Aufklärung über Behandlungsalternativen dann gegeben, wenn der Patient Kenntnis davon hat, dass im ersteren Fall sich in dem Schaden ein bekanntes Risiko verwirklicht hat, über welches hätte aufgeklärt werden müssen, über welches jedoch nicht aufgeklärt wurde. Dazu gehört allerdings auch das Wissen, dass der Schaden nicht auf ein fehlerhaftes Vorgehen zurückgeht.[63]

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      In der zweiten Fallvariante, der unterbliebenen Aufklärung über Behandlungsalternativen, muss der Patient Kenntnis davon haben, dass es zu dem zum Schaden führenden Eingriff eine gleichwertige, wenn auch mit unterschiedlichen Risiken behaftete Alternative gegeben hätte, die ihn, wäre er darüber aufgeklärt worden, vor einen Entscheidungskonflikt gestellt hätte.

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      Die Schwierigkeit bei der Kenntniserlangung liegt in diesen Fällen gerade nicht in der Feststellung eines Abweichens vom medizinischen Standard, sondern erschöpft sich in der Frage, ob der schlechte Ausgang als mögliches Risiko vorhersehbar, aber für den Patienten wegen unzureichender Aufklärung überraschend war.

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      Das Gleiche gilt auch für die Fälle, in denen die Patientin/der Patient überhaupt keine Grundaufklärung erhalten hat, und in denen sich dann ein Operationsrisiko verwirklicht, selbst wenn dieses Risiko für sich genommen nicht aufklärungspflichtig gewesen wäre. Denn bereits die fehlende Grundaufklärung führt dazu, dass die Patientin/der Patient bei zutreffender rechtlicher Würdigung weiß, dass der Eingriff von vornherein rechtswidrig war.[64]

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      Der Patientenseite wird auch zugemutet, sich nach dem Eintritt schwerwiegender Komplikationen nach einer dahingehenden Aufklärungsbedürftigkeit zu erkundigen, soweit sich dadurch das Wissen auf einfache Weise komplettieren lässt.[65]

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      Dennoch gilt auch für den Verjährungsbeginn bei Aufklärungsfehlern, dass keine Verpflichtung besteht, sich Kenntnisse über fachspezifisch medizinische Fragen zu verschaffen. Dies hat der BGH in seiner Entscheidung vom 10.10.2006[66] herausgearbeitet. Wegen einer Adoleszenz-Skoliose war die Klägerin im Alter von 16 Jahren an der Wirbelsäule operiert worden. Bei der Operation war es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal gekommen, die zur Querschnittslähmung führte. Darüber hinaus entwickelte die Patientin neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum, Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten. Über das Risiko einer Querschnittslähmung war sie aufgeklärt worden. Über die Risiken einer Falschgelenkbildung, Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten war sie dagegen nicht aufgeklärt worden.

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      Es handelte sich bei diesen weiteren Folgen um typische Risiken des Eingriffs, deren Verwirklichung für sich genommen die weitere Lebensführung deutlich beeinträchtigt, und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.

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      Der BGH hat in dieser Entscheidung der Patientin zugutegehalten, dass die Verjährung i.d.R. nicht schon beginnt, sobald die Patientin einen Schaden aufgrund der medizinischen Behandlung feststellt. Hinzutreten muss vielmehr auch die Kenntnis, dass der Schaden nicht auf einem Behandlungsfehler, sondern auf einer spezifischen Komplikation der medizinischen Behandlung beruht, über die die Patientin hätte aufgeklärt werden müssen. Eine Erkundigungspflicht treffe die Patientin nicht, soweit es um die fachspezifisch medizinische Frage gehe, inwieweit eine Aufklärung zu erfolgen hatte. Die Patientin sei nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.

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      Im Streitfall hat der BGH Kenntnis daher erst mit Zugang eines Gutachtens angenommen, nach welchem es sich bei der Pseudoarthrose und den weiteren, nicht von der Aufklärung erfassten Folgen nicht um die Folgen eines Operationsfehlers oder schicksalhafte Zufälle handelte, sondern um Risiken, die dem Eingriff spezifisch anhafteten und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.

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      Entsprechend hat das OLG Bamberg in einer Entscheidung vom 20.7.2015[67] eine Kenntnis vom Aufklärungsmangel erst dann angenommen, als die Patientin, die durch das Robodoc-Verfahren mit einer Hüft-TEP versorgt worden war und intraoperativ eine Nervverletzung erlitten hatte, davon wusste, dass die Wahl des Verfahrens zu einer Erhöhung einzelner Risiken im Vergleich zur herkömmlichen Methode führte. Darüber war sie nicht aufgeklärt worden.

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      Aus den unterschiedlichen Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn wird deutlich, dass Ansprüche aus Aufklärungsfehlern zu anderer Zeit verjähren können als solche aus Behandlungsfehlern, zuletzt bestätigt in der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[68]: „Zwischen


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