Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
Zeit keinen neuen Verjährungslauf, wenn dieser Vorwurf später im Ermittlungsverfahren durch gutachterliche Kritik an mangelnder Befunderhebung erweitert wird.[54] In diesem Fall hatten beide Fehler zu einer zu späten stationären Einweisung geführt mit der Folge eines Versterbens des Kindes.
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Andererseits kann ein erst später erkannter Fehler zu einem entsprechend späten Zeitpunkt der Kenntnis führen, obwohl schon zu einem früheren Zeitpunkt Tatsachen auf andere Fehler hingedeutet hatten.[55] In dem vom BGH am 23.4.1985 entschiedenen Fall hatten die Eltern eines nach einem Herzstillstand verstorbenen Jungen dem behandelnden Arzt vorgeworfen, nach einer Blinddarmoperation und einem danach eingetretenen Darmverschluss zu lange mit der Nachoperation gewartet und durch Narkosefehler den Herzstillstand herbeigeführt zu haben. Während die Vermutung eines zu langen Abwartens mit der Nachoperation schon früher bestand, hatte sich der Vorwurf fehlerhafter Narkose erst im Strafverfahren gegen den Arzt herausgestellt. Der BGH weist auf folgendes hin: „Soweit es sich um mögliche Behandlungsfehler des Beklagten bei der zweiten Operation des Sohnes der Kläger handelt, die nicht die Narkose und die Wiederbelebung betreffen, kann den Klägern nicht eine frühere Kenntnis von der Person des Schädigers entgegengehalten werden. Die Operation ist ein einheitlicher Lebensvorgang, der im Hinblick auf die Verantwortung des Beklagten im Streitfall nicht sinnvoll in einzelne Handlungsabläufe mit verschiedenen Verjährungsfristen aufzuteilen ist. Deshalb darf der Umstand, dass die Kläger einzelne Tatsachen, die ebenfalls auf einen Behandlungsfehler des Beklagten hindeuten könnten, schon früher gekannt haben, nicht dazu führen, die Behauptung, es hätten auch insoweit Behandlungsfehler vorgelegen, nicht mehr zu prüfen. Die Vermutung des Geschädigten, der Arzt habe den Fehler bei der Operation schuldhaft verursacht, hat sich vielmehr in einem solchen Fall erst durch die weitere Kenntnis vom Operationsverlauf so verstärkt, dass der Geschädigte nunmehr mit einiger Aussicht auf Erfolg klagen kann. Zur Begründung der Klage muss er dann auch Tatsachen anführen dürfen, die bis dahin nicht auszureichen schienen, gegen den Schädiger gerichtlich vorzugehen.“
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Hatten jedoch Hinweise auf einzelne Behandlungsfehler schon das Gewicht, dass die Patientenseite aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage zu erheben in der Lage gewesen wäre, ist aber davor zu warnen, bei späterer Erkennung eines weiteren Fehlers die den Verjährungsbeginn auslösende Kenntnis erst ab diesem späten Zeitpunkt anzunehmen.
IV. Kenntnis – Spannungsverhältnis von unklarer Kausalität und Beweiserleichterungen
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Ein „negatives“ MDK-Gutachten wird für die Patientenseite verjährungsrechtlich problematisch, wenn das Gutachten Behandlungsfehler oder Befunderhebungsfehler aufzeigt, die Kausalität aber verneint, weil nicht nachgewiesen werden könne, dass der Schaden auf den/die Behandlungsfehler zurückgehe. Hier greifen medizinische und rechtliche Bewertung ineinander. Ergeben sich aus dem Gutachten hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür, dass dem Patienten Beweiserleichterungen zugutekommen, die einen vollen Kausalitätsbeweis nicht erfordern, dann sind wir bei der Frage der zutreffenden rechtlichen Einordnung. Die fehlerhafte rechtliche Einordnung verhindert den Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Goehl vertritt die Ansicht, dass reduzierte Kenntnisanforderungen infolge einer Beweislastumkehr den Verjährungsbeginn nicht beeinflussen könnten, weil dem Patienten anderenfalls eine Klagerhebung zugemutet werde, „obwohl der Patient von den für eine laienhafte Einschätzung der Prozessaussichten essentiellen Umständen, aus denen sich die haftungsbegründende Kausalität ergibt, nicht einmal im Ansatz Kenntnis hat“.[56] Goehl vermengt dabei die Ebenen der Kenntnis von den haftungsbegründenden Umständen und ihrer (auch beweis-)rechtlichen Würdigung.
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Zwar gehört zur verjährungsrelevanten Kenntnis grundsätzlich auch das Wissen davon, dass das schuldhafte Fehlverhalten des Anspruchsgegners als Ursache für den Schaden anzusehen ist. Wegen der Beweiserleichterungen im Arzthaftungsrecht ist aber nicht in jedem Fall der Vollbeweis der Kausalität des Fehlverhaltens für den Schaden erforderlich. Hier sind wir bei der zutreffenden rechtlichen Würdigung der bekannten Tatsachen, die nicht zu den subjektiven Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn zählt. Gerade bei schweren Schäden aus fehlerhafter Behandlung bleibt fast regelmäßig trotz umfassender Begutachtung vorprozessual und im Gerichtsverfahren die Kausalität der Standardunterschreitung für den Schaden ungeklärt. Dennoch wird wegen der (inzwischen gesetzlich verankerten) Beweiserleichterungen der Schadensersatzanspruch bestätigt. Zu der Einschätzung der Prozessaussichten gehört daher neben der medizinischen Bewertung der Behandlung die juristische Wertung (grob oder nicht, Befunderhebungsfehler oder Diagnosefehler) und diese juristische Würdigung gehört nicht zu den haftungsbegründenden Umständen (Tatsachen). Bleibt die Kausalität offen, ist aber von einem groben Behandlungsfehler auszugehen und weiß der Patient, dass der Fehler zumindest geeignet war, die Schädigung herbeizuführen bzw. nicht zu vermeiden, dann sind das die Umstände, die in die juristische Bewertung der Prozessaussichten einfließen.
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Für die juristische Bewertung wird dem Patienten zugemutet, anwaltlichen Rat einzuholen. Hierfür hat der Patient mindestens 3 Jahre nach Kenntniserlangung von einem groben und zur Schädigung geeigneten Behandlungsfehler Zeit. Die Befürchtung von Goehl, dass bei der hier vertretenen Ansicht der Patient in die paradoxe Situation geraten könne, in welcher er das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers widerlegen müsse, um der Verjährungseinrede zu entgehen,[57] kann daher der Zumutbarkeit der Einholung eines Rechtsrats nicht entgegen gehalten werden.
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Wer also medizinisch hinreichend beraten davon Kenntnis erhält, dass dem behandelnden Arzt ein Fehler vorzuwerfen ist, welcher unter Anlegung eines objektiven Facharztstandards schlechterdings nicht verständlich ist, kann sich auf fehlende oder unzureichende Kenntnis wegen Unsicherheiten in der Kausalität dann nicht mehr berufen, wenn der Fehler zumindest geeignet war, den Schaden hervorzurufen.
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In einem vom OLG Hamm entschiedenen Geburtsschadenfall hatten die Anwälte des Kindes im Jahr 2001 aus einem geburtshilflichen Privatgutachten den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers hergeleitet. In einem zweiten Schritt 2002 war ein neuropädiatrisches Privatgutachten eingeholt worden, in welchem es als möglich eingestuft wurde, dass ohne diesen Fehler die eingetretene Schädigung vermieden worden wäre. Hier lagen nach der nachvollziehbaren Ansicht des OLG Hamm die Voraussetzungen für einen Verjährungsbeginn spätestens Ende 2002 vor und ein erst Ende 2006 ausgesprochener Einredeverzicht mit dem üblichen Vorbehalt, „soweit noch nicht verjährt“, konnte der Verjährungseinrede nicht mehr entgegengehalten werden.[58]
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Zu dem gleichen Ergebnis wird man kommen müssen, wenn die Kenntnis von Umständen vorliegt, die auf dem Umweg über einen Befunderhebungsfehler auf einen (fiktiven) groben, für die Verursachung der eingetretenen Schädigung geeigneten Behandlungsfehler schließen lassen.
V. Kenntnis der vom Patienten beauftragten Anwälte und Wissensvertretung
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Dass es bei Minderjährigen auf die Kenntnis der sorgeberechtigten Eltern und bei unter Betreuung stehenden Erwachsenen auf die Kenntnis ihrer Betreuer in deren Wirkungskreis ankommt[59] und dass ein mit der Prüfung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen beauftragter Rechtsanwalt Wissensvertreter des Geschädigten wird[60], gehört nicht zu den Besonderheiten des Arzthaftungsrechts und muss hier nicht vertieft werden.
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In seiner Entscheidung vom 26.5.2020[61] hatte der BGH dazu Stellung zu nehmen, welches Wissen einer vom Patienten beauftragten Kanzlei ihm zugerechnet werden kann. Die von dem Patienten beauftragte Kanzlei soll nach Ansicht der Beklagtenvertreter in verjährungsrelevanter Zeit (2006) in einem anderen Fall medizinisches Fachwissen dargelegt haben, welches dem Kläger im Streitfall hätte nutzbar gemacht werden müssen. Die Klägervertreter