Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
am 2.7.2014 vom OLG Saarbrücken entschiedenen Fall[24] hatte die Klägerin im Januar 2007 gegen die ihre Schwangerschaft betreuenden Gynäkologen anwaltlich vertreten Schadensersatzansprüche geltend gemacht und diese auf den Vorwurf gestützt, sie hätten es versäumt, sie zur Durchführung einer Sectio in stationäre Behandlung einzuweisen. Hierdurch sei es zum Tod ihres Kindes gekommen. Die Nichteinweisung sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen. Im etwa zeitgleich durch ihre Strafanzeige eingeleiteten Ermittlungsverfahren hatte sie weiter ausgesagt, auch sie selbst hätte sterben können, wenn weiter gewartet worden wäre. Die Vorwürfe wurden – differenzierter mit der Annahme unzureichender CTG-Befundung – durch den Gutachter im Ermittlungsverfahren im Jahr 2011 bestätigt. Das OLG sah hierin jedoch lediglich eine Bestätigung der schon im Jahr 2007 vorliegenden Kenntnis. Der im Jahr 2013 eingereichte Prozesskostenhilfeantrag war damit in verjährter Zeit gestellt worden.
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Genauso hat der BGH in seiner Entscheidung vom 8.11.2016[25] Kenntnis spätestens unterstellt, nachdem mit einem Anwaltsschreiben vom August 2007 deutlich Behandlungsfehlervorwürfe angesprochenen wurden.
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Dass Unmutsäußerungen eines Patienten nicht gleich auf Kenntnis von einem Behandlungsfehler schließen lassen, hat das OLG München in seiner Entscheidung vom 23.1.2014[26] in einem Fall unterstrichen, in welchem es um die Auslegung der Weigerung eines Patienten ging, die Eigenanteil-Rechnung eines Hautarztes zu begleichen. Der Patient hatte gegen die Rechnung eingewandt, dass „nach Aussagen mehrerer Ihrer Kollegen das Ausmaß des operativen Eingriffs an meinem Rücken weit überzogen“ gewesen sei. Das OLG München sah darin noch nicht die Behauptung eines Behandlungsfehlers und auch noch keinen Hinweis auf ausreichende Kenntnis, da dem Patienten diverse Unterlagen zur Beurteilung fehlten.
3. Verhältnis von Kenntnis und herabgesetzter Substantiierungslast
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Die geringen Anforderungen an die Substantiierung einer Klage in Arzthaftungsprozessen können nicht dazu führen, der Patientenseite zur Vermeidung der Einrede der Verjährung zuzumuten, schon gestützt auf bloße Vermutungen eine Klage zu erheben.[27] Was als Kenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 BGB anzusehen ist, kann nicht durch herabgesetzte Substantiierungsanforderungen bestimmt werden. Wer erst klagen will, wenn er einigermaßen weiß, dass Ursache der Erkrankung ein Behandlungsfehler ist, dem kann nicht erklärt werden, eine solche medizinische Kenntnis benötige er gar nicht.[28] Wenn die Patientin/der Patient schon aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Behandlung und Schädigung gestützt auf ihre/seine Vermutung eines Behandlungsfehlers eine hinreichend schlüssige Klage erheben kann, heißt dies nicht, dass sie/er auch nur annähernd die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen kann. Auf diesem Kenntnisstand kann eine (Feststellungs-)Klage nicht als zumutbar angesehen werden.[29]
4. Rückschluss auf Kenntnis aus Behandlungsfehlervorwürfen im Klagverfahren
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Wir finden in einzelnen Entscheidungen die Überlegung, der Patient trage zum Behandlungsfehlervorwurf etwas vor, was er schon vor Jahren in verjährungsrelevanter Zeit hätte vortragen können. So schließt das OLG Koblenz in seiner Entscheidung vom 24.2.2015[30] aus Vorwürfen des Patienten, die in verjährungsrelevanter Zeit gar nicht erhoben worden waren, sondern erst in seiner Klagschrift vom Juni 2013, deshalb auf Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit, weil der Erkenntnisstand des Klägers mit Blick auf mögliche Behandlungsfehler sich in den letzten 3 Jahren vor der Klagerhebung nicht verbessert habe, der Kläger also mit derselben Begründung wie im Jahr 2013 auch schon 2009 hätte Klage erheben können. Es ging in diesem Fall um diverse Komplikationen nach der Versorgung von Unfallverletzungen im Jahr 2007. Der Vorwurf in der Klagschrift ging dahin, die Unfallchirurgen hätten Schäden im rechten Knie zu spät erkannt und dann fehlerhaft nicht operativ versorgt und sie hätten eine Femurfraktur unsachgemäß operiert und den Heilungsverlauf falsch beurteilt. Was konkret standardwidrig gewesen sein sollte, ging aus der Klagschrift nicht hervor. Welche Verstöße gegen den fachärztlichen Standard dem Kläger schon in verjährungsrelevanter Zeit bekannt gewesen sein sollen, geht aus der Entscheidung des OLG Koblenz ebenfalls nicht hervor.
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Damit konnte, wie Jaeger in seiner Anmerkung[31] zutreffend herausarbeitet, der Ablauf der Verjährungsfrist nicht begründet werden. Zu der vom Schuldner darzulegenden und zu beweisenden Kenntnis vor dem Jahr 2010 fehlen der Entscheidung des OLG Koblenz tragfähige Feststellungen, zumal auch die Klagschrift (in zulässiger Weise) nicht auf konkrete Standardabweichungen, sondern allein auf Vermutungen gestützt war.[32] Feststellungen zu einer Kenntnis von einem Verstoß gegen den medizinischen Standard wären jedoch Voraussetzung für die Annahme des Eintritts der Verjährung.
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In einer umstrittenen Entscheidung des Brandenburgischen OLG vom 28.10.2010[33], die noch näher zu beleuchten sein wird, ist der klagenden Patientin ebenfalls vorgehalten worden, es sei nicht deutlich geworden, welche konkreten Informationen zu Behandlungsfehlern sie erst in den letzten drei Jahren vor Klagerhebung erlangt habe. Jaeger unterstreicht in seiner Anmerkung zu dieser Entscheidung[34], dass es Sache der Beklagten gewesen wäre, darzulegen und zu beweisen, dass die Klägerin in verjährungsrelevanter Zeit Kenntnis hatte, und dass dazu auch in dieser Entscheidung Feststellungen fehlten.
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Auch wenn die vorstehend erörterten obergerichtlichen Entscheidungen nicht überzeugen, empfiehlt es sich für die Klägerseite deutlich zu machen, was wann zu einer für die Klagerhebung hinreichenden Kenntnis geführt hat. Mit der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[35] ist jedoch geklärt, dass nicht wie in den vorstehend zitierten Entscheidungen des OLG Koblenz und des OLG Brandenburg einfach aus späteren Äußerungen der Patientenseite auf bereits früher vorhandene Kenntnis geschlossen werden kann.
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Das verkennt auch das OLG Braunschweig in einer Entscheidung vom 28.2.2020[36], wenn es der dortigen Klägerin vorhält, es sei nicht ersichtlich, welche weiteren Erkenntnisse sie in der Zeit zwischen der Übersendung der Behandlungsunterlagen im Februar 2014 und dem ersten Anspruchsschreiben im März 2015 erlangt haben wolle. Die Entscheidung ist mit dem Urteil des BGH vom 8.11.2016 nicht in Einklang zu bringen. Eine sekundäre Darlegungslast der Klägerseite kann hier entgegen der Ansicht des OLG Braunschweig nicht angenommen werden. Wenn keine Verpflichtung besteht, sich medizinisches Fachwissen anzueignen, oder Behandlungsunterlagen auf schadenskausale Fehler zu überprüfen[37], kann auch nicht verlangt werden zu erläutern, weshalb derartiges nicht früher geschehen ist.
5. Erkenntnisse im Rahmen der Nachbehandlung
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Kenntnis vom Abweichen vom ärztlichen Standard kann sich aus dem weiteren Behandlungsverlauf und Äußerungen von Nachbehandlern ergeben. So meint das OLG Brandenburg in der bereits zitierten Entscheidung vom 28.10.2010[38] aus den Erkenntnissen der Patientin im Zuge der weiteren Behandlung auf eine Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit schließen zu können. Die von einem Mammakarzinom betroffene Klägerin hatte in diesem Fall der im Jahr 2002 behandelnden Gynäkologin vorgeworfen, dass diese einen Knoten in der linken Brust nach Durchführung von Mammasonokontrollen nicht zusätzlich durch eine Biopsie abgeklärt hatte. Eine entsprechende Untersuchung war im November 2003 durchgeführt worden und hatte zur Diagnose eines Mamakarzinoms geführt. Daraus schließt das OLG Brandenburg, dass die Patientin im Jahr 2003 nicht nur den wesentlichen Behandlungsverlauf als solchen gekannt habe, sondern auch als medizinische Laiin daraus habe erkennen können, dass die beklagte Gynäkologin vom üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen sei. Ihr sei bekannt gewesen, „dass es von den Beklagten nicht ergriffene Möglichkeiten zur Vermeidung dieses Misserfolgs gab. Dadurch, dass die Klägerin erlebt hatte, dass unter Zuhilfenahme weiterer Untersuchungen der Knoten als bösartig erkannt und sodann entsprechend behandelt wurde, musste sich ihr auch bei laienhafter Würdigung der medizinischen Vorgänge und Zusammenhänge aufdrängen, dass die Beklagte entsprechende