Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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Anwendung finden.[181]

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      Hingegen ist die echte Popularklage (Bürgerklage) gegen Gesetze auch in Ungarn aus dem Arsenal der Verfassungsgerichtsbarkeit verschwunden und durch die Urteilsverfassungsbeschwerde ersetzt worden. Zwar ist nach der Neuregelung eine Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung auch dann zulässig, wenn die Verfassungswidrigkeit nicht auf der fehlerhaften Auslegung und Anwendung der Norm durch das Gericht, sondern unmittelbar auf der Norm selbst beruht. Allerdings muss der Beschwerdeführer auch in diesem Fall, anders als früher bei der actio popularis, darlegen, dass er in seinen Grundrechten verletzt ist.[182]

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      Bei der Individualbeschwerde spielt das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung anders als bei der Normenkontrolle und den Organstreitverfahren eine große Rolle. Denn beim Schutz der Individualrechte handelt es sich im Unterschied zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von (Parlaments-)Gesetzen und die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen um eine Aufgabe, die auch im System der zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit traditionell von den ordentlichen Gerichten mit wahrgenommen wird. Schon vom reinen Umfang her ist dies eine Aufgabe, die sich im modernen Verfassungsstaat, in dem die Grundrechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern den Alltag der Bürgerinnen und Bürger prägen, nicht von einem einzelnen Gericht, sondern nur von einem voll ausgebauten Gerichtssystem einigermaßen erfolgreich bewältigen lässt. Hier wandelt sich daher die Rolle des Verfassungsgerichts faktisch von derjenigen der ersten und letzten Entscheidungsinstanz in Normenkontroll- und Organstreitverfahren zur Revisionsinstanz in Grundrechtsverfahren.[183] Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung stellt sicher, dass das Verfassungsgericht seine Ressourcen auf diejenigen Fälle konzentrieren kann, in denen seiner Einschätzung nach der einfachgerichtliche Rechtsschutz der Grundrechte unzureichend ist und daher Impulse für seine Weiterentwicklung erforderlich sind. Wie die Beispiele Deutschlands und Spaniens zeigen, reicht die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde allein allerdings längst nicht mehr aus, um die Arbeitsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit angesichts der Flut von Individualbeschwerden zu gewährleisten.

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      Soweit es sich bei der Individualbeschwerde um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde handelt, sind die Vorschriften über die Form und die Rechtswirkungen von Entscheidungen im Verfahren der Normenkontrolle regelmäßig unmittelbar oder entsprechend anwendbar.[184] Bei der Urteilsverfassungsbeschwerde stellt sich hingegen die heikle Frage, ob das Verfassungsgericht darauf beschränkt sein soll, die Unrichtigkeit der vom Gericht in der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Verfassungsauslegung festzustellen oder ob ihm die Befugnis zugesprochen wird, die fehlerhafte Gerichtsentscheidung aufzuheben und die Neuverhandlung der Rechtssache anzuordnen. Es liegt auf der Hand, dass die zweite Lösung einen erheblich weitergehenden Eingriff in die Autonomie der ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellt und das Verfassungsgericht auch formell zu einem Revisionsgericht macht. Es ist daher nicht überraschend, dass sie nur in Deutschland explizit Aufnahme in die Verfassungsgerichtsordnung gefunden hat (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). In anderen Ländern sind hingegen Bemühungen, den bindenden Charakter verfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Verfahren der Urteilsbeschwerde für die Fachgerichte gesetzlich zu verankern, am Widerstand der Fachgerichte gescheitert.[185] Das spanische LOTC, das sich sonst weitgehend am deutschen Modell der Verfassungsbeschwerde orientiert, bestimmt seit 2007 ausdrücklich, dass sich das Verfassungsgericht für den Fall, dass einer Urteilsverfassungsbeschwerde stattgegeben wird, auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Wiederherstellung der verletzten Rechte beschränkt „und sich jedweder weitergehenden Erwägung über das Verhalten der Rechtsprechungsorgane enthält“[186].

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      Die Normenkontrolle in ihren unterschiedlichen Formen bildet nach wie vor die Kernkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit auch im europäischen Rechtsraum. Sie wird in unterschiedlichen Formen praktiziert, wobei die konkrete Normenkontrolle den kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Systeme darstellt. Ein Gericht, das eine Kompetenz zumindest zur inzidenten konkreten Normenkontrolle nicht besitzt, kann weder im engeren noch im weiteren Sinne als Verfassungsgericht qualifiziert werden.

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      Das Organstreitverfahren ist demgegenüber in den meisten Ländern des europäischen Rechtsraums nur von untergeordneter Bedeutung. Obwohl in den letzten Jahrzehnten mehr Staaten dieses Verfahren in ihre Verfassungen oder zumindest Verfassungsgerichtsgesetze aufgenommen haben, ist seine Normierung in den meisten Fällen knapp und fragmentarisch. Dieser zurückhaltenden Regulierung entspricht die sehr begrenzte Relevanz des Organstreitverfahrens in der verfassungsgerichtlichen Praxis. Nur in zwei Ländern des europäischen Rechtsraums ist dieses Verfahren näher entfaltet und zum Schutz hochrangiger Verfassungsgüter (Schutz der Integrität der rechtsprechenden Gewalt, demokratischer Minderheitenschutz) effektiv eingesetzt worden.

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      Während Verfassungsgerichte im Organstreitverfahren durchweg und im Normenkontrollverfahren überwiegend exklusive Zuständigkeiten ausüben, teilt die Verfassungsgerichtsbarkeit die Aufgabe eines wirksamen Individualrechtsschutzes mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit bzw. der Fachgerichtsbarkeit. Der Grundrechtsschutz überformt nicht nur in Deutschland den klassischen Individualrechtsschutz, der den Gerichten im europäischen Rechtsraum schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist, und lässt deren zentrale Rolle bei der Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Grundrechte als Kernstück der verfassungsmäßigen Ordnung im juristischen Alltag hervortreten. Das Verfassungsprozessrecht hinkt dieser Entwicklung allerdings zum Teil noch hinterher. Besonders deutlich ist dies in Ländern, in denen die Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Aufschwung des verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes eingeführt wurde, wie in Italien und Frankreich. Wichtige Funktionen des Individualbeschwerdeverfahrens, insbesondere der verfassungsgerichtliche Schutz vor Grundrechtsverletzungen unmittelbar durch Gesetz, werden in diesen Ländern im Rahmen ursprünglich stärker objektivrechtlich konzipierter Verfahren, namentlich der konkreten Normenkontrolle wahrgenommen. In einem Kontext, in dem der Grundrechtsschutz immer stärker als Kernaufgabe der gesamten Gerichtsbarkeit begriffen wird, wandelt sich die Funktion des Verfassungsgerichts von einer Beschwerde- zu einer Aufsichtsinstanz über die ordentlichen Gerichte bzw. Fachgerichte, die diesen Schutz im Alltag primär gewährleisten müssen. Dementsprechend kommt der Urteilsverfassungsbeschwerde als Instrument zur Steuerung der Grundrechtsinterpretation durch die Fachgerichte heute eine zentrale Bedeutung zu. In vielen Ländern ist sie aber entweder im Verfassungsgerichtsgesetz gar nicht vorgesehen oder führt in der Praxis nur ein Schattendasein. Denn selbst dort, wo die Urteilsverfassungsbeschwerde gesetzlich geregelt ist, sehen die Verfassungsgerichte im Hinblick auf eine latente oder offene Rivalität mit den Fachgerichten und deren hierarchischer Spitze nicht selten von einer aktiven Wahrnehmung dieser Kompetenz ab.

      Alexander Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992.

      Francisco Fernández Segado, La justicia constitucional – una visión de derecho comparado (3 Bände), 2009.

      Eduardo Ferrer-MacGregor (Hg.), Derecho procesal constitucional (4 Bände), 2006.

      Michel Fromont, La diversité de la justice constitutionnelle en Europe, in: Michele Borgetto (Hg.), Mélanges Philippe Ardant – Droit et politique à la croisée des cultures, 1999, 47-59.

      Michel Fromont, Justice constitutionnelle comparée, 2013.

      Rainer Grote, Der Verfassungsorganstreit, 2010.

      Andrew Harding/Peter Leyland (Hg.), Constitutional courts – a comparative study, 2009.

      Ragnhildur


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