Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


Скачать книгу
der verfassungsgerichtlichen Feststellung der Grundgesetzwidrigkeit seines Verhaltens ziehen wird.[135]

IV. Individualbeschwerde: die Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit?

      82

      Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist heute in der öffentlichen Wahrnehmung eng mit ihren Funktionen im Bereich des Schutzes der von der Verfassung garantierten Grund- und Menschenrechte verknüpft. Die normative Bindungswirkung der verfassungsrechtlich geschützten Grund- und Menschenrechte als unmittelbar anwendbares Recht und damit ihre Heranziehung als Prüfungsmaßstab bei der Wahrnehmung der den Verfassungsgerichten zugewiesenen Kontrollbefugnisse ist jedenfalls im europäischen Rechtsraum, nicht zuletzt unter dem Einfluss der EMRK, Allgemeingut. Sie nehmen daher mittlerweile als Prüfungsmaßstab auch in den objektivrechtlich konzipierten verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten wie namentlich der (abstrakten und konkreten) Normenkontrolle einen herausragenden Platz ein, wie das französische Beispiel in besonders spektakulärer, aber keineswegs singulärer Weise belegt (siehe oben Rn. 14).

      83

      Dennoch entspricht der Idee des Grundrechtsschutzes in besonderer Weise eine Ausgestaltung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens, welche die durch eine behauptete verfassungswidrige Maßnahme in ihren Grundrechten betroffenen Personen berechtigt, eine Überprüfung des fraglichen Aktes selbst herbeizuführen und als Partei im verfassungsgerichtlichen Verfahren aufzutreten. Dementsprechend werden unter dem Begriff „Individualbeschwerde“ im Folgenden alle verfassungsgerichtlichen Verfahren zusammengefasst, die von den Grundrechtsträgern selbst initiiert werden können und primär den Schutz ihrer durch die Verfassung geschützten Grund- und Menschenrechte vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt zum Ziel haben.

      84

      Die wachsende Bedeutung der Individualbeschwerde als verfassungsgerichtliche Verfahrensart hat unmittelbare Auswirkungen auf das Verhältnis der (spezialisierten) Verfassungsgerichtsbarkeit zu den Fachgerichten. Denn der Schutz der Rechte des einzelnen ist ein zentraler Bestandteil der Rechtsschutzfunktion der Fachgerichte, unabhängig davon, ob diese Rechte aus der Verfassung oder aus einfachem Gesetz abgeleitet werden. Der Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Schutz der individuellen Rechte ist zum Teil in den nationalen Verfassungen ausdrücklich als Grundrecht verankert.[136] Wird dieser Rechtsschutz ergänzt und verstärkt durch ein besonderes Verfahren zum Schutz individueller Rechte vor dem Verfassungsgericht, so stellt sich die Frage nach der Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, die in anderen Verfahrensarten, in denen das Verfassungsgericht über ausschließliche Zuständigkeiten verfügt, wie im Organstreitverfahren oder im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Sie hat unmittelbare Bedeutung für die Ausgestaltung des Verfahrens der Individualbeschwerde (vgl. unten 5.).

      85

      

      Der Schutz individueller Rechte durch die ordentlichen Gerichte hat in vielen Ländern eine lange Tradition, die der Entstehung einer spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit oft vorausliegt und zum Teil dazu beigetragen hat, die Schaffung einer solchen Institution als überflüssig erscheinen zu lassen. Der Individualrechtsschutz spielte bereits bei der Etablierung der US-amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit eine zentrale Rolle. Formal wird die strikt subjektivrechtliche Interpretation des Rechtsschutzauftrags der amerikanischen Gerichte auf das „case or controversy“ Erfordernis in Art. III der Bundesverfassung gestützt, das nach ständiger Rechtsprechung die Zuständigkeit der Gerichte auf die Entscheidung konkreter Rechtsstreitigkeiten im kontradiktorischen Verfahren einschränkt. Die Klagebefugnis setzt daher nach der Rechtsprechung voraus, dass die klagende Person eine persönliche, individuelle und unmittelbare Rechtsverletzung geltend macht.[137] In der Begründetheitsprüfung wird dann geprüft und entschieden, ob die angegriffene Maßnahme unzulässigerweise in die geltend gemachten individuellen Rechte eingreift. Im Falle der Feststellung eines Verfassungsverstoßes gewähren die Gerichte im Rahmen ihrer gesetzlichen und gewohnheitsrechtlichen Befugnisse Abhilfe, wie z.B. durch Erlass eines Feststellungsurteils (declaratory relief), die gerichtliche Anordnung, ein grundrechtsbeeinträchtigendes Verhalten zu unterlassen (injunctive relief), oder durch Zuspruch von Schadensersatz (damages). Erst im Laufe der Zeit haben zunächst der Gesetzgeber[138] und später auch der US Supreme Court selbst[139] spezielle constitutional remedies entwickelt.[140]

      86

      Auch in Lateinamerika hat der Grundrechtsschutz als Kernkompetenz der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine lange Tradition. Hier stellt das amparo-Verfahren in vielen Ländern das traditionelle Verfahren zum Schutz der wichtigsten Individualrechte einschließlich der verfassungsrechtlichen Grundrechte dar und war als solches schon vor der Einführung spezialisierter Verfassungsgerichte nach dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil des prozessualen Instrumentariums der ordentlichen Gerichte.[141] Die Zuständigkeit zum Schutz der Grundrechte im amparo-Verfahren haben die ordentlichen Gerichte auch dort behalten, wo in den letzten Jahrzehnten eine stärkere Zentralisierung verfassungsgerichtlicher Funktionen erfolgt ist, wie etwa in Mexiko[142] oder Kolumbien.[143] Die Entscheidungen im amparo-Verfahren unterliegen der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof im allgemeinen oder spezialgesetzlich vorgeschriebenen Rechtsbehelfsverfahren.[144]

      87

      In Europa gehörten Österreich-Ungarn und die Schweiz zu den Staaten, welche die verfassungsrechtliche Individualbeschwerde der Sache nach bereits im 19. Jahrhundert kannten. So gehörte zu den Zuständigkeiten des Reichsgerichts in der Habsburgermonarchie neben der Entscheidung über Kompetenzkonflikte und über Ansprüche im Verhältnis der Glieder des Reichs zum Reich und untereinander auch die Entscheidung über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte.[145] In der Schweiz wurde mit der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 die Möglichkeit geschaffen, das Schweizerische Bundesgericht direkt mit Beschwerden betreffend die Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger zu befassen. Diese verfassungsrechtliche Neuerung führte zur Schaffung eines spezifischen Rechtsbehelfs, der „staatsrechtlichen Beschwerde“ (recours de droit public), die es den Betroffenen ermöglichte, vor dem Bundesgericht die Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte geltend zu machen. Diese frühe Form der Individualbeschwerde zeichnete sich zum einen durch ihren weiten Anwendungsbereich und zum anderen durch die großzügige Regelung der dem Bundesgericht in diesem Verfahren zur Verfügung stehenden Abhilfemöglichkeiten aus. Mit ihr konnten nicht nur Einzelakte der Verwaltung und Gerichtsurteile, sondern auch generell-abstrakte Rechtsakte unter Einschluss der Gesetze angegriffen werden. Gelangte das Bundesgericht zum Ergebnis, dass der fragliche Akt die verfassungsmäßigen Rechte verletzte, war er nicht auf eine deklaratorische Entscheidung beschränkt, sondern konnte den angefochtenen Einzelakt oder (kantonalen) Gesetzgebungsakt aufheben.[146]

      88

      In den verschiedenen Systemen der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie sich in Europa im 20. Jahrhundert entwickelten, stand der Individualrechtsschutz hingegen zunächst nicht im Vordergrund. Die Zuständigkeit des Reichsgerichts zur Entscheidung über Individualbeschwerden wegen Verletzung verfassungsgemäßer politischer Rechte wurde gerade nicht in die Liste der Kompetenzen des 1920 neu geschaffenen österreichischen Verfassungsgerichtshofs übernommen. Vielmehr lag, dem normtheoretischen Ansatz der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung entsprechend, der Schwerpunkt der Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofs auf der Normenkontrolle. Mit diesem Ansatz wäre eine Individualbeschwerde gegen Normen zwar durchaus vereinbar gewesen. Der ursprünglich geringe Stellenwert des Individualrechtsschutzes in diesem stark objektivrechtlich ausgerichteten System der Verfassungskontrolle zeigte sich aber darin, dass es über ein halbes Jahrhundert dauern sollte, bis tatsächlich die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze


Скачать книгу