Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
keine allgemeine Zuständigkeit des Conseil constitutionnel zur Entscheidung von Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Staatsorganen über den Umfang und die Wahrnehmung der ihnen nach der Verfassung zustehenden Kompetenzen, obwohl mit Recht festgestellt worden ist, dass es sich bei der Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Staatsorganen um die wichtigste Aufgabe handele, die dem Conseil constitutionnel durch die Verfassung von 1958 übertragen wurde.[105] Diese Aufgabe nimmt der Conseil indes nicht in einem, sondern gleich in mehreren Kontroll- und Beanstandungsverfahren wahr, deren Wichtigstes die – atypisch weit gefasste – präventive Normenkontrolle ist. Wie bereits gezeigt (siehe oben Rn. 19 ff.), ging es bei der präventiven Normenkontrolle ursprünglich vor allem darum, die Einhaltung der dem Parlament durch die Verfassung gezogenen kompetenziellen und prozeduralen Schranken für die Ausübung der Gesetzgebungsfunktion zu überwachen. Die Kontrolle ist nicht nur fakultativ, sondern obligatorisch, wenn es um die Verabschiedung von Organgesetzen geht. Im Hinblick auf den Zweck der präventiven Normenkontrolle, die Einhaltung der verfassungsmäßig vorgegebenen Kompetenzordnung durch die Legislative sicherzustellen, ist dies durchaus folgerichtig, denn bei den Organgesetzen handelt es sich um Gesetze, welche die Einzelheiten der Bildung, Organisation und Arbeitsweise der in der Verfassung vorgesehenen staatlichen Organe regeln. Hier besteht daher ein besonders hohes Risiko, dass der Gesetzgeber die Zuständigkeiten der staatlichen Organe in einer mit der Verfassung nicht vereinbaren Weise definiert und konkretisiert.
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Die Einrichtung einer – im internationalen Vergleich ganz unüblichen – obligatorischen Präventivkontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den Conseil constitutionnel verdankt sich ganz ähnlichen Erwägungen: der Befürchtung, dass die Kammern sich andernfalls die ihnen durch die Verfassung bewusst vorenthaltenen Kompetenzen insbesondere auf dem Gebiet der Kontrolle der Regierung durch eine weite Definition ihrer entsprechenden Befugnisse in den Geschäftsordnungen zurückholen würden. Tatsächlich hat der Conseil constitutionnel durch seine Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsverordnungen von Nationalversammlung und Senat erheblich dazu beigetragen, dass die Parlamentspraxis die von der Verfassung vorgezeichneten Bahnen des „rationalisierten Parlamentarismus“ nicht verlässt.[106]
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Weitere Zuständigkeiten des Conseil constitutionnel, die sich auf den Schutz der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung zwischen Regierung und Parlament beziehen, sind im Zusammenhang mit der Regelung der Normsetzungsbefugnisse vorgesehen. Die Verfassung räumt der Regierung nicht nur ausgedehnte Interventionsmöglichkeiten im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess ein, sie billigt ihr darüber hinaus die Befugnis zu eigener, „autonomer“ Rechtsetzung zu. Die Ausübung der parlamentarischen Gesetzgebungsbefugnis ist grundsätzlich auf die in Art. 34 der Verfassung enumerativ aufgezählten Vorbehaltsmaterien beschränkt; die Gegenstände, die nicht zu dem durch diese Bestimmung abgegrenzten Gesetzesbereich (domaine de la loi) gehören, können von der Regierung auf dem Verordnungsweg geregelt werden (Art. 37 Abs. 1 französische Verfassung). Gelangt die Regierung während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zu der Überzeugung, dass ein parlamentarischer Gesetzentwurf oder Änderungsantrag keine der Materien betrifft, die kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anordnung der Gesetzgebungszuständigkeit des Parlaments unterliegen, kann sie der Gesetzesinitiative bzw. dem Änderungsantrag den Einwand der Unzulässigkeit entgegenhalten. Kommt es hierüber zu einer Meinungsverschiedenheit mit dem Präsidenten der betreffenden Kammer, so kann jeder der beiden Beteiligten die Entscheidung des Conseil constitutionnel beantragen (Art. 41 französische Verfassung).[107] Aufgrund seiner kontradiktorischen Natur handelt es sich dabei um dasjenige verfassungsgerichtliche Verfahren, das einem Verfassungsorganstreit im deutschen Sinne am nächsten kommt.
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Die Regierung kann darüber hinaus beim Verfassungsrat die Feststellung beantragen, dass ein bereits verabschiedetes und in Kraft getretenes Gesetz außerhalb des parlamentarischen Vorbehaltsbereichs ergangen ist, also materiellen Verordnungscharakter aufweist. Diese Feststellung („Delegalisierung“) ist Voraussetzung für die Abänderung des Gesetzestextes auf dem Verordnungsweg (Art. 37 Abs. 2 französische Verfassung). Schließlich hat die Verfassungsreform von 2008 die Möglichkeit zur Einschaltung des Verfassungsrats geschaffen, wenn das Präsidium der mit einer Gesetzesvorlage befassten Parlamentskammer der Auffassung ist, dass die Regierung bei der Einbringung der Vorlage ihren mittlerweile durch Organgesetz geregelten Informationspflichten gegenüber dem Parlament nicht ausreichend nachgekommen ist: lässt sich über diesen Punkt zwischen dem Präsidium und der Regierung keine Einigkeit erzielen, kann jede der beiden Seiten den Conseil constitutionnel anrufen.[108]
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Die vom Conseil constitutionnel ausgeübte Kontrolle über die Kompetenzverteilung zwischen den obersten Staatsorganen ist freilich nicht umfassend. Sie konzentriert sich entsprechend der auf die Einhegung parlamentarischer Allmacht bedachten Grundkonzeption der Verfassung auf mögliche Verletzungen der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung durch Akte und Maßnahmen des Parlaments (Gesetze, Geschäftsordnungen). Demgegenüber unterliegen die möglichen Beeinträchtigungen der Kompetenzen des Parlaments durch Entscheidungen und Maßnahmen von Regierung und Staatspräsident als solche nicht der Kontrolle durch den Conseil constitutionnel.[109]
4. Gegenstand des Organstreitverfahrens
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Die praktische Bedeutung des Organ- bzw. Kompetenzstreits hängt davon ab, welche Maßnahmen und Unterlassungen dem Verfassungsgericht im Rahmen dieses Verfahrens zur Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit unterbreitet werden können. Nicht wenige Verfassungsgerichtsgesetze folgen insoweit einem restriktiven Modell des Kompetenzkonflikts und beschränken das Gericht auf die Klärung der Frage, welchem der am Verfahren beteiligten Organe die streitbefangene Kompetenz zusteht. So setzt die Zulässigkeit des Kompetenzkonflikts zwischen Verfassungsorganen nach spanischem Verfassungsprozessrecht die Behauptung eines der in diesem Verfahren beteiligungsfähigen Organe voraus, dass eines der anderen parteifähigen Organe durch positive Entscheidung Kompetenzen (attribuciones) für sich in Anspruch genommen hat, die nach der Verfassung oder einem verfassungsausführenden Gesetz dem Antragsteller zustehen. Das Verfahren ist damit als vindicatio potestatis konzipiert, die eine bereits erfolgte Kompetenzanmaßung (usurpación de competencias) durch das beklagte Organ voraussetzt.
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Dagegen genügt es in Spanien nicht, wenn der Antragsgegner durch die unsachgemäße oder exzessive Inanspruchnahme der eigenen Zuständigkeiten die Bedingungen für die effektive Wahrnehmung der dem antragstellenden Organ zustehenden Kompetenzen lediglich beeinträchtigt oder verschlechtert hat. Ebenso wenig stellt eine bloße Kompetenzgefährdung einen ausreichenden Klagegrund dar. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den vertikalen Kompetenzkonflikten, in denen auch Kompetenzbeeinträchtigungen und -gefährdungen eine Verletzung der Kompetenzordnung im Sinne der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Vorschriften darstellen können. Das spanische Verfassungsgericht hat die strengeren Anforderungen im Rahmen des horizontalen Kompetenzkonflikts mit der unterschiedlichen Finalität beider Verfahrensarten gerechtfertigt. Der vertikale Kompetenzkonflikt diene der Verteidigung der jeweiligen Souveränitäts- und Autonomiebereiche der am Streit beteiligten territorialen Einheiten. Dagegen gehe es im horizontalen Kompetenzkonflikt nicht um Autonomieschutz, sondern um die Wahrung der pluralistischen oder komplexen Organstruktur an der Spitze des Staates, die traditionellerweise als Gewaltenteilung bezeichnet werde.[110]
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Ähnlich begrenzt ist der Anwendungsbereich des Kompetenzkonflikts im russischen Verfassungsprozessrecht, auch wenn die Antragsbefugnis weiter gefasst ist als im spanischen Verfassungsgerichtsgesetz. Ausreichend ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 des russischen VerfGG[111], dass der Antragsteller die Verletzung der in der Verfassung der Russländischen Föderation geregelten Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen der staatlichen Gewalt durch den Erlass eines Rechtsakts oder die Vornahme einer rechtserheblichen Handlung bzw. die Ablehnung des Erlasses oder der Vornahme geltend macht. Nach dem