Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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Teil die Möglichkeit, den Zeitpunkt, zu dem die für unvereinbar mit der Verfassung erklärte Norm ihre Rechtskraft verliert, abweichend zu bestimmen, um die Entstehung eines Rechtsvakuums zu vermeiden (Art. 62 französische Verfassung).[72] Eine Ausnahme stellt insoweit Art. 281 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung dar, der ausdrücklich eine Rückwirkung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der für verfassungswidrig befundenen Norm vorsieht. Allerdings kann das Verfassungsgericht hiervon abweichen, wenn die Rechtssicherheit oder im Einzelnen darzulegende Gründe der Billigkeit oder des Allgemeininteresses von besonderer Bedeutung dies erfordern (Abs. 4). Auf der Grundlage des verfassungswidrigen Gesetzes bereits vollzogene Rechtsverhältnisse müssen daher auch in Portugal in der Regel nicht rückabgewickelt werden. Unbeschadet bleibt hiervon die Möglichkeit, die nachträglich erfolgte Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Bestimmung im Einzelfall oder allgemein als Wiederaufnahmegrund im Sinne der jeweils anwendbaren fachgerichtlichen Verfahrensordnung anzuerkennen. Die Verfassungsgerichtsgesetze selbst machen von der Möglichkeit der Anordnung einer Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens, wenn überhaupt, nur für den Fall einer auf der Grundlage des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes erfolgten strafrechtlichen Verteilung Gebrauch (z.B. § 79 Abs. 1 BVerfGG) .

III. Organstreitverfahren: das Stiefkind der Verfassungsgerichtsbarkeit

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      Organstreitigkeiten sind in einer beträchtlichen Zahl von Ländern des europäischen Rechtsraums nicht Gegenstand einer eigenen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeit (skandinavische Länder, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Portugal, Griechenland). In den Ländern, in denen eine verfassungsgerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen oder -gewalten hingegen explizit geregelt ist, werden sie häufig mit den Streitigkeiten über die Kompetenzverteilung zwischen der Zentralregierung und den föderalen bzw. autonomen subnationalen territorialen Einheiten (Provinzen, autonomen Gemeinschaften etc.) zusammen geregelt (vgl. Art. 134 italienische Verfassung; Art. 59 des spanischen VerfGG[73]). Schon dieser karge Textbefund suggeriert, dass es sich bei den Organstreitigkeiten um eine im Vergleich zu Normenkontrolle und Individualbeschwerde eher vernachlässigte, „ungeliebte“ verfassungsgerichtliche Verfahrensart handelt. Selbst mit Blick auf Italien, in dem Organstreitigkeiten in der Praxis in erheblicher Zahl vor die Corte costituzionale kommen, sprechen Bifulco und Paris von der „Residualfunktion“ des Kompetenzkonflikts (conflitto di attribuzione). Sie diene dem Zweck, eventuelle Lücken im Schutz der Verfassung zu füllen, wenn andere geeignete Rechtsmittel fehlten.[74] In dieser Zurückhaltung mag die Sorge zum Ausdruck kommen, dass das Verfassungsgericht durch die Zuständigkeit zur Entscheidung solcher Streitigkeiten, in denen es unmittelbar um die Machtverteilung an der Spitze des Staates geht, leicht in hochpolitische Konflikte hineingezogen und damit in seiner Autorität beschädigt werden könnte.

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      Für diese Annahme spricht aus vergleichender Sicht, dass etwa der US Supreme Court seine Zuständigkeit zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen den obersten Staatsorganen, insbesondere zwischen Präsident und Kongress, restriktiv auslegt, obwohl die US-Verfassung wie kaum eine andere auf dem Prinzip der checks and balances aufgebaut ist. Dies hat den Supreme Court indes nicht davon abgehalten, die Prüfung der Klagebefugnis und die Figur der political question doctrine zur einschränkenden Auslegung seiner Zuständigkeit in Kompetenzkonflikten zwischen Legislative und Exekutive einzusetzen – im Unterschied zu Fragen der föderalen Kompetenzverteilung, die neben dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger einen Schwerpunkt seiner Rechtsprechung bilden. Die Prüfung der Klagebefugnis (standing) ist einem individualrechtlichen Verständnis verpflichtet, demzufolge die klagende Person einen persönlichen Nachteil (personal injury) geltend machen muss, wozu Nachteile, die sie in ihrer Eigenschaft als Mitglied oder Amtswalterin eines staatlichen Organs erleidet, nicht gehören sollen. Eine großzügige Zulassung von Organklagen würde das Gericht nach eigenem Verständnis nur von seiner eigentlichen Mission ablenken, die in dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger und von Minderheitengruppen, nicht jedoch in der Wahrnehmung einer allgemeinen Aufsichtsfunktion über die Arbeitsweise des Regierungssystems liege.[75] Zwar wird die Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips, das in den vielfältigen verfassungsrechtlichen Kompetenzverschränkungen insbesondere zwischen Exekutive und Legislative (checks and balances) seinen Niederschlag gefunden hat, ausdrücklich anerkannt. Gewaltenteilung wird aber nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Schutz der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger angesehen:

      “It is for that reason that the claims of individuals – not of Government departments – have been the principal source of judicial decisions concerning separation of powers and checks and balances.”[76]

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      Das Phänomen, dass Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten über die horizontale Gewaltenteilung insbesondere im Verhältnis zwischen den politischen Gewalten nicht in einem kontradiktorischen Organstreitverfahren zur gerichtlichen Klärung gebracht werden (können), sondern im Rahmen einer anderen Verfahrensart zur Überprüfung gestellt werden, ist nicht auf die USA beschränkt, sondern auch im europäischen Rechtsraum verbreitet. Allerdings werden im europäischen Kontext hierfür schwerpunktmäßig objektivrechtliche Verfahren wie die Normenkontrolle und die abstrakte Verfassungsauslegung genutzt. Eine Ausnahme stellt Spanien dar, wo Parlamentsabgeordnete die mit ihrem Abgeordnetenmandat verbundenen Rechte mit der Individualverfassungsbeschwerde geltend machen können. Man kann im Hinblick auf diese in vielen Ländern praktizierte Nachrangigkeit des Organstreitverfahrens, das selbst in den Ländern, in denen es explizit in der Verfassung oder im Verfassungsgerichtsgesetz normiert ist, häufig nur dann zum Einsatz kommt, wenn keine andere geeignete Verfahrensart zur Erreichung des angestrebten Ziels der Kompetenzwahrung zur Verfügung steht, von einer materiellen Subsidiarität des Organstreits sprechen, die von der formellen, gesetzlich angeordneten Subsidiarität zu unterscheiden ist (zu letzterer siehe unten 5).

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      Die unterschiedlichen Formen des Organstreits sind durch den gemeinsamen Gegenstand charakterisiert, der sie von den Normenkontrollverfahren auf der einen und den Individualverfassungsbeschwerden auf der anderen Seite abgrenzt: es geht nicht um die Verfassungsmäßigkeit von Normen oder den Schutz individueller Rechte, sondern um die Wahrung der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung. Sie kann sowohl in kontradiktorischen als auch in nicht-kontradiktorischen Verfahren erfolgen (zu letzteren siehe unten 3.). Zur Systematisierung der kontradiktorischen Verfahren bieten sich vor allem die zur Abgrenzung der Beteiligungsfähigkeit benutzten Kriterien an, die eine mehr oder wenige enge Anlehnung an das klassische Gewaltenteilungsschema mit seinen drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative erkennen lassen.

Hauptformen des Organstreitverfahrens
Prinzipale Organstreitigkeiten Nicht-kontradiktorische Formen der Klärung von Organkompetenzen
Klassischer Kompetenzkonflikt zwischen Staatsgewalten Italien, Österreich, Ungarn Frankreich, Ungarn
Konflikt zwischen Staatsorganen Deutschland, Polen, Spanien
a) Organstreit als „klassischer“ Kompetenzkonflikt zwischen den Staatsgewalten


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