Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
Rechtsraums verwirklicht haben, die grundsätzlich die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen anerkennen. Prozessuale Ausgestaltung und praktische Bedeutung dieses Kontrollinstruments variieren indessen auch innerhalb des europäischen Rechtsraums erheblich.
repressiv | präventiv | |
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konkret | Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Portugal, Schweiz, Spanien, Ungarn | |
abstrakt | Belgien, Deutschland, Italien, Österreich, Polen, Portugal, Schweiz (kantonale Gesetze), Spanien, Ungarn | Frankreich, Portugal, Ungarn |
aa) Abstrakte Normenkontrolle
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Die repressive Normenkontrolle in der Form der abstrakten Normenkontrolle ist insbesondere in den Ländern vorgesehen, die von dem Modell der österreichisch-kelsenianischen Verfassungsgerichtsbarkeit (mit-)beeinflusst sind, wie Österreich, Deutschland, Spanien, Portugal, Polen, Ungarn.[56] Die abstrakte Normenkontrolle wird hier, ähnlich wie im Rahmen der präventiven Kontrolle, durch einen Antrag in Gang gesetzt, der von einem oder mehreren der in der Verfassung bezeichneten privilegierten Antragsteller gestellt werden kann. Nur ausnahmsweise können Verfassungsgerichte eine abstrakte Normenkontrolle auch von Amts wegen durchführen.[57]
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Der Kreis der potenziellen Antragsteller im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist meist auf staatliche Amts- und Mandatsträger, wie den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, die Parlamentspräsidenten und Parlamentsmitglieder, beschränkt.[58] In föderalen und quasi-föderalen Systemen gehören häufig auch die Vertreter der föderalen bzw. quasi-föderalen Einheiten (Länder, Regionen, Provinzen, autonomische Gemeinschaften) zu den Antragstellern.[59] Hier kann die abstrakte Normenkontrolle daher auch zur Klärung (quasi-)föderaler Verfassungsstreitigkeiten eingesetzt werden.
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In einigen Ländern wie Österreich können auch die obersten oder höheren Gerichte die Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle beantragen. Nur vereinzelt wird dagegen Privatpersonen das Recht auf Beantragung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens eingeräumt, wobei die in Ungarn 1989 eingeführte Popularklage unmittelbar gegen Gesetze[60] heute nirgends mehr vorgesehen ist.[61] Die antragstellende Person muss vielmehr geltend machen, unmittelbar durch das Gesetz – nicht erst durch seine behördliche oder gerichtliche Anwendung im konkreten Fall – in seinen Rechten verletzt zu sein (Art. 140 Abs. 1 B-VG) oder ein entsprechendes Klageinteresse (intérêt à agir) darlegen können (Art. 142 belgische Verfassung).[62]
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Für die Durchführung des Verfahrens gilt regelmäßig der Antragsgrundsatz (ne ultra petitur), d.h. es werden nur diejenigen Bestimmungen vom Verfassungsgericht geprüft, deren Verfassungswidrigkeit von den Antragstellern gerügt wird.[63] Andernfalls wäre bei umfangreichen Gesetzen die erforderliche gründliche Prüfung kaum zu gewährleisten. Zugleich entscheidet der Prüfungsumfang auch über den Umfang der Rechtskraft: nur soweit eine Bestimmung tatsächlich Gegenstand der Überprüfung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit war, kann die Entscheidung darüber in Rechtskraft erwachsen (siehe Rn. 37 ff.).
bb) Konkrete Normenkontrolle
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Die in Europa – und darüber hinaus – vorherrschende Erscheinungsform der Normenkontrolle stellt die repressive Normenkontrolle in der Ausgestaltung als konkrete Normenkontrolle dar. In Staaten mit einer dezentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit wie in den skandinavischen Ländern fügt sie sich nahtlos in das allgemeine System der gerichtlichen Instanzenzüge und Rechtsbehelfe ein. Die Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle in Estland geht dagegen stärker in Richtung eines Vorlageverfahrens, allerdings eines Vorlageverfahrens, das sich an die Entscheidung des Prozessgerichts in der Hauptsache anschließt: das Prozessgericht kann die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und den Ausgangsrechtsstreit zunächst entscheiden, muss jedoch die Entscheidung in der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Verfassungskammer im Obersten Gerichtshof vorlegen. Kommt diese zu dem Ergebnis, dass das Prozessgericht die fragliche Norm zu Unrecht als verfassungswidrig angesehen und daher bei der Entscheidung des Falles außer Acht gelassen hat, kann die beschwerte Partei das Urteil wegen dieses Rechtsfehlers mit den ordentlichen Rechtsbehelfen anfechten (Art. 149 Abs. 3 estnische Verfassung).
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Von den Ländern im europäischen Rechtsraum, die über eine zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen, hat sich nur Portugal für die Rechtsbehelfslösung entschieden. Dort obliegt es zunächst jedem Gericht, über die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm, auf deren Anwendung es in dem zu entscheidenden Fall ankommt, selbst zu entscheiden. Diese Entscheidung, ob sie nun positiv oder negativ ausfällt, kann dann von der beschwerten Partei mit Rechtsbehelf unmittelbar beim Verfassungsgericht angefochten werden (Art. 280 Abs. 1 portugiesische Verfassung). Das portugiesische Recht gestaltet damit auf der Grundlage eines Systems der zentralisierten Verfassungskontrolle die konkrete Normenkontrolle so aus, wie sie in den Systemen mit dezentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit praktiziert wird: mit letztverbindlicher Entscheidung durch das Verfassungsgericht, die von den Parteien im Instanzenzug mit den hierfür zur Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsbehelfen herbeigeführt wird.[64]
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In den meisten Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit wie Belgien, Italien, Deutschland oder Frankreich ist die konkrete Normenkontrolle hingegen als besonderes Verfahren ausgestaltet, das sich im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits als Zwischenverfahren darstellt. Die Vorlagebefugnis steht dabei entweder allen Gerichten und Rechtsprechungsorganen zu (etwa in Österreich, vgl. Artikel 140 Abs. 1 lit. a) B-VG) oder ist auf die Obergerichte (zweitinstanzlichen Gerichte) beschränkt (so z.B. in Frankreich, Art. 23-1 Abs. 1 frz. VerfGG). Die Beschränkung auf die Obergerichte wird von der Erwägung getragen, dass nur Gerichte, die nicht vorrangig als Tatsacheninstanz fungieren, in der Regel über ausreichend Erfahrung und Expertise in der Auslegung des Rechts verfügen, um die Erfolgsaussichten einer Vorlage zum Verfassungsgericht realistisch einzuschätzen und dessen begrenzte Arbeitskapazitäten nicht mit unzureichend begründeten und/oder aufmerksamkeitsheischenden Vorlagen in Anspruch zu nehmen.
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In Frankreich wird diesem ersten Filter ein zweiter hinzugefügt, was eine zweistufige Ausgestaltung des Vorlageverfahrens zur Folge hat. Ein vorlageberechtigtes Gericht, das im Rahmen eines anhängigen Verfahrens mit der Frage konfrontiert ist, ob eine gesetzliche Bestimmung die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten verletzt (question prioritaire de constitutionnalité), kann diese Frage nicht unmittelbar dem Verfassungsrat vorlegen. Vielmehr muss es sie zunächst durch begründeten Beschluss, in dem es ausführt, warum aus seiner Sicht die Voraussetzungen für eine Vorlage an den Conseil constitutionnel erfüllt sind, an das höchste Gericht des Gerichtszweigs verweisen, dem es angehört: an den Staatsrat (Conseil d’État), wenn es sich um ein Verwaltungsgericht handelt, an den Kassationshof (Cour de Cassation), sofern das Ausgangsverfahren vor einem Zivil- oder Strafgericht anhängig ist. Nur die höchsten Gerichte können die Frage dem Verfassungsrat vorlegen und nehmen damit die erwähnte Filterfunktion wahr. Sie unterliegen dabei nicht der Aufsicht durch den Verfassungsrat: lehnen sie die Vorlage an den Conseil constitutionnel ab, ist die Entscheidung endgültig und kann nicht – etwa von der