Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
Anforderungen an das Verfahren der Verabschiedung und Bekanntmachung von Verfassungsänderungen vom Verfassungsgericht auf Antrag auf ihre Einhaltung hin überprüft werden können.[27]
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Andererseits können auch Normen, deren Urheber nicht das Parlament ist, Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens sein, wenn ihre Stellung und Funktion in der jeweiligen Normenhierarchie derjenigen von Parlamentsgesetzen entspricht. So sind in Italien und Spanien auch die Normen mit Gesetzeskraft (atti aventi forza di legge, disposiciones normativas con fuerza de ley) Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Dazu gehören die decreti legislativi (gesetzesvertretenden Rechtsverordnungen) und die decreti-legge (Verordnungen mit Gesetzeskraft) in Italien[28], aber auch die Gesetze, normativen Bestimmungen und Anordnungen mit Gesetzesrang der Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Autónomas) in Spanien.[29]
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Völlig aus dem Rahmen fällt hingegen die nur in Frankreich vorgesehene Erstreckung der obligatorischen (!) präventiven Normenkontrolle auf die parlamentarischen Geschäftsordnungen und alle späteren Änderungen dieser Geschäftsordnungen (Art. 61 Abs. 1 französische Verfassung). Hierin kommt die ursprüngliche Funktion der französischen Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich zum Ausdruck: darüber zu wachen, dass die in der Verfassung fixierten Regeln der Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative nicht vom Parlament einseitig und eigenmächtig durch eine entsprechende Ausgestaltung der parlamentarischen Geschäftsordnung zu Lasten der Exekutive verschoben und auf diese Weise das spezifische Gewaltenteilungsmodell der Verfassung von 1958 mit seiner Betonung der autonomen Rolle der Regierung ausgehebelt wird.[30]
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Das Fehlen einer von der Verfassung geforderten gesetzlichen Regelung ist hingegen in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen meist nicht als eigenständiger Anwendungsfall der Normenkontrolle geregelt. Eine Ausnahme stellt Portugal dar, wo in Art. 283 der Verfassung die Möglichkeit vorgesehen ist, die Feststellung des verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers in einem besonderen Verfahren zu beantragen, wenn dieser die zur Umsetzung der Verfassung erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen nicht ergreift. Diese Regelung verweist auf die Anfangszeit der portugiesischen Verfassung, als diese noch viele Bestimmungen mit stark programmatischem Charakter enthielt, die erst durch ihre gesetzliche Implementierung rechtliche Verbindlichkeit erlangten. Das Verfahren zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen war in dieser Zeit darauf ausgerichtet, diese Programmsätze gegenüber dem Gesetzgeber einklagbar zu machen. Mit der Reduzierung programmatischer Verfassungsbestimmungen im Zuge der nachfolgenden Verfassungsreformen hat dieses Verfahren in der Praxis jedoch stark an Bedeutung verloren.[31] In Ungarn hingegen stellte die Feststellung eines verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers in den ersten zwei Jahrzehnten der Existenz des Verfassungsgerichts die zweithäufigste Verfahrensart dar.[32] In dem nach der Verabschiedung des neuen Grundgesetzes 2011 neugefassten Verfassungsgerichtsgesetz ist die Feststellung eines verfassungswidrigen legislativen Unterlassens hingegen nicht mehr als eigenständige Kompetenz, wohl aber als mögliche Rechtsfolge einer stattgebenden Entscheidung in Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgesehen.[33]
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Prüfungsmaßstab im Rahmen der Normenkontrolle ist das gesamte höherrangige Recht: der Prüfungsmaßstab ist also abhängig vom konkreten Prüfungsgegenstand. Stehen gesetzliche Normen oder Normen mit Gesetzesrang zur Überprüfung, so sind grundsätzlich alle Normen der Verfassung Prüfungsmaßstab (Verfassungsrecht im formellen Sinn). Teilweise tendieren die Verfassungsgerichte dazu, diesen Prüfungsmaßstab auf das gesamte materielle Verfassungsrecht oder doch dessen wichtigsten Teile zu erstrecken. Dies lässt sich insbesondere in der französischen Verfassungsrechtsprechung beobachten, welche die Verfassung nicht nur am Text der Verfassung von 1958, sondern an dem wesentlich umfassenderen „bloc de constitutionnalité“ misst. Dazu gehören nicht nur die in der Verfassung selbst enthaltenen Bestimmungen, sondern auch die Organgesetze zur Implementierung der von der Verfassung vorgesehenen Einrichtungen und Institutionen, selbst wenn diese ursprünglich nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber, sondern von der – hierzu durch die Übergangsbestimmungen der Verfassung ermächtigten – Exekutive erlassen worden sind. So sind einfache Gesetze und selbst Organgesetze wiederholt am Maßstab der Bestimmungen des ursprünglich im Verordnungsweg in Kraft gesetzten Organgesetzes über die Haushaltsgesetzgebung vom 2. Januar 1959 auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft worden.[34] Besonders spektakulär war die Ausweitung des bloc de constitutionnalité durch die berühmte Entscheidung Liberté d’association von 1971, in der sich der Conseil constitutionnel für befugt erklärte, die vom Parlament beschlossenen Gesetze im Verfahren der präventiven Normenkontrolle in Zukunft nicht mehr nur am Maßstab der in der Verfassung von 1958 niedergelegten Kompetenz- und Verfahrensnormen zu überprüfen, sondern auch anhand der in der Präambel der Verfassung von 1958 in Bezug genommenen Grund- und Menschenrechtskataloge der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 und der Präambel der Verfassung von 1946.[35] Mit der Erweiterung des Prüfungsmaßstabs war eine folgenreiche Neuausrichtung der Normenkontrolle verbunden: lag ihr Schwerpunkt zuvor auf der Bewahrung der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung,[36] so rückte nunmehr der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, die seit der französischen Revolution Eingang in die republikanische Tradition gefunden hatten, zunehmend in den Mittelpunkt des Verfahrens.
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Eine weitere Ausdifferenzierung des Prüfungsmaßstabs findet ferner in den Fällen statt, in denen auch untergesetzliche Normen, insbesondere von der Exekutive erlassene Vorschriften in die Normenkontrolle miteinbezogen werden. So legt Art. 188 Nr. 3 der polnischen Verfassung fest, dass die von den zentralen staatlichen Organen erlassenen Rechtsvorschriften vom Verfassungsgericht auf Antrag eines der in Art. 191 genannten Organe auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung, den von Polen ratifizierten internationalen Abkommen und den Gesetzen zu überprüfen sind.[37]
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Auf der anderen Seite kann der Prüfungsmaßstab auch auf besonders wichtige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien eingeschränkt sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn verfassungsändernde Gesetze Gegenstand des Normenkontrollverfahrens sind. Sofern hier nicht von vornherein die Kontrolle auf das formell und verfahrensmäßig ordnungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes beschränkt ist, findet regelmäßig eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf die zentralen Verfassungsprinzipien statt, die entweder bereits im Verfassungstext selbst als änderungsfest hervorgehoben sind (so in Deutschland, Art. 79 Abs. 3 GG) oder vom Verfassungsgericht nach eigenem Ermessen definiert werden (so in Italien[38]). Aus dem Rahmen fällt hingegen die Regelung des ungarischen Grundgesetzes von 2011, die explizit eine Beschränkung der inhaltlichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit auch bei bestimmten nicht-verfassungsändernden Gesetzen, nämlich den Haushalts- und Abgabengesetzen vorschreibt: überprüft werden dürfen diese Gesetze nur am Maßstab der in Art. 32/A Abs. 3 abschließend aufgelisteten bürgerlichen und politischen Rechte, nicht hingegen anhand der ökonomischen und sozialen Grundrechte.
a) Vorbemerkung: Zunehmende Einheit in der Vielfalt
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Die mit der Durchführung der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle verbundenen zahlreichen theoretischen und praktischen Fragen haben zu einer großen Spannbreite in der Ausgestaltung dieser Verfahrensart geführt. Man übertreibt nicht, wenn man die Normenkontrolle als die vielgestaltigste verfassungsgerichtliche Verfahrensart überhaupt bezeichnet. Auf der anderen Seite lassen sich bei genauerem Hinsehen Entwicklungen feststellen, die zu einer zunehmenden Angleichung der prozessualen Ausgestaltung der Normenkontrolle in den verschiedenen Systemen der Verfassungsgerichtsbarkeit geführt haben. So ist selbst in den Vereinigten Staaten, die als das Geburtsland der konkret-repressiven Normenkontrolle angesehen werden, die abstrakt-präventive Normenkontrolle kein seltener Ausnahmefall mehr. Die vom Kongress verabschiedeten Gesetze sehen mittlerweile häufig vor, dass sie dem US Supreme Court noch vor ihrem formellen Inkrafttreten im „fast track“-Verfahren zur Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit