Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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colspan="2">Abkürzungen: Abs. Absatz Art. Artikel BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz B-VG Bundes-Verfassungsgesetz CE Constitución Española de 1978 (Spanische Verfassung von 1978) EMRK Europäische Menschenrechtskonvention GG Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland LOTC Ley Orgánica del Tribunal Constitucional (Organgesetz über das Verfassungsgericht) Ordin. Ordinanza (Corte Costituzionale) (Beschluss des italienischen Verfassungsgerichts) Rec. Cons. const. Recueil des décisions du Conseil constitutionnel (Sammlung der Entscheidungen des Verfassungsrats) Sent. Sentenza (Corte Costituzionale) (Urteil des italienischen Verfassungsgerichts) STC/SSTC Sentencia/Sentencias del Tribunal Constitucional (Urteil/Urteile des Verfassungsgerichts) VerfGG Verfassungsgerichtsgesetz ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

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      Im europäischen Rechtsraum werden die auf die Aufgabe der Verfassungskontrolle spezialisierten Spruchkörper (Verfassungsgericht, Verfassungsrat) regelmäßig auf der Grundlage enumerativ aufgeführter Zuständigkeiten tätig, die in der Verfassung und dem einschlägigen Verfassungsgerichtsgesetz geregelt sind.[1] Das Verfassungsgerichtsgesetz ist dabei häufig nicht auf die Regelung der Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Organisation und Funktionsweise des Verfassungsgerichts beschränkt, sondern kann weitere, in der Verfassung selbst nicht spezifizierte Zuständigkeiten vorsehen.[2] Von einer einheitlichen Systematik der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten kann dabei auch im europäischen Rechtsraum nicht die Rede sein: zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen, unter denen Verfassungsgerichte in den einzelnen Ländern eingerichtet wurden, und die Bedürfnisse und Problemlagen, auf die sie eine (verfassungsrechtliche) Antwort geben sollen. Von der Wahrnehmung der Wahlgerichtsbarkeit (Frankreich)[3] über Parteiverbotsverfahren (Deutschland)[4] bis zur Präsidenten- und Ministeranklage[5] reichen die besonderen Funktionen, die den Verfassungsgerichten im Rahmen ebenso vieler spezieller verfassungsgerichtlicher Verfahren übertragen worden sind. Dabei ist der Kreis der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten in einigen Ländern seit der Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit weitgehend stabil geblieben (Deutschland, Italien), während er in anderen größeren Veränderungen unterworfen gewesen ist (Frankreich, Ungarn), in denen sich auch die sich wandelnde – zunehmende oder schrumpfende – Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Institutionengefüge widerspiegelt.

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      Wie für das Prozessrecht generell, so gilt auch für das Verfassungsprozessrecht, dass es der Durchsetzung des materiellen Rechts, hier also des Verfassungsrechts dient. Für die Regelung der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten bedeutet dies, dass sie auf die spezifischen verfassungsrechtlichen Problemlagen Antworten geben sollen, die bei der Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit als besonders dringlich empfunden wurden. Daraus erklärt sich, dass zwar mittlerweile von einem Kanon der verfassungsgerichtlichen (Haupt-)Verfahrensarten gesprochen werden kann, diese Verfahrensarten jedoch charakteristischen Abwandlungen unterliegen, in denen sich besondere nationale Problemlagen und Schwerpunktsetzungen widerspiegeln, so etwa die Gewaltenteilungsproblematik in Frankreich, der Föderalisierungsprozess in Belgien oder der Imperativ des umfassenden Grundrechtsschutzes in Deutschland.

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      Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen die Normenkontrolle, das Organstreitverfahren und die Individualverfassungsbeschwerde. Die Normenkontrolle bleibt in ihren vielfältigen Formen (präventiv-repressiv, abstrakt-konkret) die am weitesten verbreitete und in der Praxis häufig auch wichtigste verfassungsgerichtliche Verfahrensart. Ihre Vielgestaltigkeit ermöglicht es in besonderer Weise, den spezifischen nationalen Gegebenheiten und Problemlagen durch entsprechende Ausgestaltung des Verfahrens Rechnung zu tragen. Rechtstheoretische Überlegungen haben vor allem in Österreich eine tragende Rolle bei der Fokussierung auf die Normenkontrolle als die wesensbestimmende Aufgabe und zugleich wichtigste Prärogative der Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt. In Deutschland, das vielleicht am stärksten vom Modell der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit beeinflusst worden ist, ist die Normenkontrolle allerdings sowohl in der konkreten als auch der abstrakten Spielart durch die Verfassungsbeschwerde an den Rand gedrängt worden. In Nordeuropa (Schweden, Finnland) hat sie nach wie vor mit erheblichen Akzeptanzproblemen zu kämpfen, obwohl sie auch in diesen Ländern mittlerweile Aufnahme in den Verfassungstext gefunden hat. In anderen Ländern (Italien, Portugal) hat man sich dagegen um eine Synthese des österreichischen Modells der prinzipalen Normenkontrolle mit der US-amerikanischen Praxis der Inzidentkontrolle bemüht, während in Frankreich und Belgien wiederum ganz eigenständige Formen der Normenkontrolle eingeführt und anschließend dynamisch weiterentwickelt worden sind.

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      Beim Organstreitverfahren muss man hingegen eher von einer „ungeliebten“ Verfahrensart sprechen. Dies zeigt sich bereits bei seiner Normierung in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen, die häufig rudimentär ist und sich oft an der klassischen Gewaltenteilungskonzeption orientiert, was ihren Anwendungsbereich in den parlamentarischen Regierungssystemen der meisten europäischen Staaten stark einschränkt. Größere Bedeutung hat der Organstreit in der Praxis vor allem in Italien erlangt, wo er primär zum Schutz der Unabhängigkeit der Justiz gegenüber einer häufig dysfunktionalen Politik eingesetzt wird, und in Deutschland, wo das Verfassungsgericht auf der Grundlage einer weit formulierten Kompetenzgrundlage im Rahmen des Organstreits Feinabstimmungen sowohl im Kräftespiel zwischen Regierung und Parlament als auch im parlamentarischen Deliberations- und Willensbildungsprozess vornimmt, wie sie in anderen Ländern schwer vorstellbar erscheinen.

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      Hingegen handelt es sich beim Individualrechtsschutz um eine „klassische“ Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Anfänge des verfassungsgerichtlichen Individualrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum gehen bereits auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Allerdings darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kreis der beschwerdefähigen Rechte in allen Verfassungsordnungen, die früh eine Individualbeschwerdemöglichkeit anerkannten, wesentlich beschränkter war als zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Jahrzehnten des ständigen Ausbaus des Grundrechtsschutzes auf nationaler und internationaler Ebene. Der Umfang des Individualrechtsschutzes, der heute von der Verfassungsgerichtsbarkeit zu leisten ist, ist ein ganz anderer als noch im 19. Jahrhundert und mit jener Zeit kaum zu vergleichen.

II. Normenkontrolle als Kernkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit

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