Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
die Elemente Erfahrung, Sachverstand, Pluralismus, und Distanz zu politischen Entscheidungsträgern genannt werden. Auf der höheren, abstrakteren Ebene sind jene Verfassungsprinzipien zu nennen, die gemeinhin mit staatlichen Organen an der Spitze der richterlichen Gewalt im Allgemeinen und mit der Verfassungsgerichtsbarkeit im Besonderen in Verbindung gebracht werden: Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung.
a) Erfahrung der Richter
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Unter den konkreten Zielen ist jenes der Erfahrung der Richter zu nennen. Die Verfassungen bringen in verschiedenen materiellen und prozessualen Voraussetzungen zum Ausdruck, dass der Verfassungsrichter um ein größeres Maß an Lebenserfahrung und Berufserfahrung verfügen soll. Im Besonderen machen dies Vorschriften über ein Mindestalter der Richter, das in der Regel von tatsächlich neu bestellten Richtern noch deutlich übertroffen wird. Im Mindestalter kombiniert mit dem Erfordernis juristischer Ausbildung und/oder juristischer Berufstätigkeit wird gleichzeitig ein größeres Maß auch an juristischer Erfahrung mit gewährleistet.
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Zu einem ähnlichen Ergebnis führen Regelungen, die nicht ein Mindestalter, sondern eine Mindestdauer juristischer Berufstätigkeit zur Voraussetzung machen. Ein deutlicher Reflex dieses Zieles zeigt sich im Übrigen im Erfordernis der Wählbarkeit für hohe bzw. höchste juristische Ämter in Art. 21 EMRK und Art. 253 Abs. 1 AEUV.
b) Rechtlicher Sachverstand
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Verfassungen und Verfassungspraxis der einzelnen Staaten machen deutlich, dass für die Tätigkeit am Verfassungsgericht ein deutlich über den Durchschnitt hinausgehender juristischer Sachverstand oder wenigstens eine Spezialisierung in den Bereichen der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts gefordert wird. Vereinzelt wird dies ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, vielfach werden aber an die Berufung von Universitätsprofessoren im Schnitt implizit Erwartungen eines weit überdurchschnittlichen Sachverstandes geknüpft. Dies führt in der Praxis zur Absicht der zur Wahl befugten Organe, die Vertretung einer bestimmten Expertise im Richterkollegium sicher zu stellen, vor allem für spezielle Bereiche wie etwa das Steuerrecht,[155] das Sozialrecht oder das Ausländerrecht.
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Indirekt wird der Sachverstand auch durch die Wahl von Vertretern verschiedener Berufsgruppen befördert, weil damit die Erwartung verbunden ist, dass das von diesen repräsentierte – mitunter besondere – Wissen (bzw. die Erfahrung) für das Gericht gewonnen wird.
c) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit
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Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wird zuvörderst durch die Ausgestaltung des Richteramts sowie durch die Garantien für die bereits im Amt befindlichen Richter gewährleistet. Aber auch durch das Bestellungsverfahren werden die Ziele der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit angestrebt und erreicht. Auch hier ist die Tatsache der Berufung von Professoren und Richtern, die kraft der Wissenschaftsfreiheit bzw. ihrer Stellung im bisherigen richterlichen Amt regelmäßig über ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verfügen können, ein erster Garant für ein bestimmtes Maß an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verteilung der Befugnisse zur Bestellung auf mehrere Organe ist zudem Garant für einen Ausgleich verschiedener, insbesondere weltanschaulicher Positionen, die das richterliche Vorverständnis prägen könnten.
d) Pluralismus
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Ein weiteres Ziel, das in vielen Verfassungen mittelbar oder unmittelbar zum Ausdruck kommt, ist jenes des Pluralismus. Einzelne Verfassungen enthalten ausdrückliche Anordnungen über einen Proporz der Zugehörigkeit zu bestimmten Teilen der Bevölkerung (z.B. Belgien). In anderen Staaten wird der Pluralismus auf verschiedenen Ebenen indirekt herbeigeführt und befördert. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit zwingt in vielerlei Hinsicht zu Absprachen und Kompromissen. Während zu ideologischen Ansichten naturgemäß keine bindenden Vorgaben gemacht werden können, zeigt sich ein Pluralismus auf der Ebene der juristischen Berufsgruppen. Eine jüngere Entwicklung der letzten zwanzig Jahre ist es, dass der Frauenanteil in den Verfassungsgerichten sukzessive gestiegen ist, wenngleich er in vielen Staaten noch mehr oder weniger deutlich von der Hälfte der Richter entfernt ist.
e) Distanz zu politischen Entscheidungsträgern
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Auch die Wahrung der Distanz zu politischen Entscheidungsträgern kommt in Regelungen einzelner Verfassungen zum Ausdruck, etwa in den Unvereinbarkeitsvorschriften, in Weisungsfreistellungen und negativen Voraussetzungen für die Wahl. In der Praxis ist hier sehr stark die politische und rechtsstaatliche Kultur des jeweiligen Staates maßgeblich. Der Vergleich zeigt, dass es Staaten gibt, in denen ehemalige Politiker stärker vertreten sind, während dies bei anderen Staaten – trotz vergleichbarer Kriterien in der Verfassung – kaum der Fall ist.
2. Allgemeine Verfassungsprinzipien
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Die vorgenannten Ziele stehen weder isoliert nebeneinander, noch sind sie Selbstzweck. Sie gehen vielmehr auf in verschiedenen Verfassungsprinzipien, zu denen die Verfassungsgerichtsbarkeit nach vorherrschender Meinung einen wesentlichen Beitrag leistet.
a) Rechtsstaatlichkeit
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An der Spitze der Verfassungsprinzipien ist jenes der Rechtsstaatlichkeit zu nennen. Je nach Umfang und nationalen Ausprägungen eines Rechtsstaatsprinzips ist der Bezug durch die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Kompetenzen gegeben. Auch die Qualität des Verfahrens und die Wirkungen seiner Entscheidungen sind für die Rechtsstaatlichkeit einer Verfassungsordnung unmittelbar von Bedeutung.
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Darüber hinaus sind aber auch die Zusammensetzung und die Organisationsgarantien eines Verfassungsgerichts, genauer die Qualifikation und die Unabhängigkeit seiner Richter entscheidend für das Maß an Rechtsstaatlichkeit. Die Aufgliederung in konkretere Ziele macht den Beitrag einer nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten hoch entwickelten Verfassungsgerichtsbarkeit für den Rechtsstaat insgesamt deutlich. Langjährige Erfahrung in qualifizierter juristischer Berufstätigkeit trägt zur Qualität des Gerichts bei. Kriterien sind dabei die Dauer der Tätigkeit, der Bezug zu den juristischen Fragestellungen eines Verfassungsgerichts, die Vielfalt der Tätigkeit, bei Berufsrichtern der Aufstieg in den Gerichtsinstanzen oder der Wechsel des Gerichtszweiges. Dabei ist nicht nur die Qualifikation des einzelnen Richters isoliert in den Blick zu nehmen, sondern die Zusammensetzung des Gerichts bzw. seiner Gliederungen. Ein Spruchkörper (Kammer, Senat), der überwiegend mit Beschwerden von Einzelpersonen in Grundrechtsfragen befasst ist, gewinnt an Qualität, wenn ihm neben Experten des Verfassungsrechts auch Richter oder Professoren mit strafrechtlicher, polizeirechtlicher, familienrechtlicher oder ausländerrechtlicher Spezialisierung oder wenigstens entsprechender vertiefter Erfahrung angehören. Ein Spruchkörper, der für Fragen des Steuerrechts, der Finanzverfassung, des Unions- und Völkerrechts zuständig ist, kann von Mitgliedern mit besonderer Expertise in diesem Bereich profitieren.
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Schließlich ist die Unabhängigkeit der Richter in der Perspektive entscheidend. Dazu tragen zuvörderst die Regelungen über die Ausgestaltung des Amtes bei, an zweiter Stelle das Verfahren der Auswahl. Wahlverfahren dürfen keine Abhängigkeiten schaffen, Möglichkeiten der