Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
einhergeht. Die Kür von Richtern der europäischen Gerichtshöfe geschieht überhaupt unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Allenfalls findet man in einigen Qualitätstageszeitungen eine Kurznotiz.
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Diese Stufung in der Öffentlichkeit ist nicht ausschließlich der Bedeutung des Amtes geschuldet. Vielmehr ist der Bestellungsvorgang von vorneherein weniger auf die Öffentlichkeit ausgelegt. Anhörungen sind nach wie vor im Rechtsvergleich die Ausnahme. Der Zeitraum zwischen der Bekanntgabe eines Kandidaten und der tatsächlichen Wahl ist häufig kurz. Auf diese Weise gibt es auch ein geringeres Maß an wahrnehmbaren Vorgängen im Bestellungsverfahren. Eine ausführliche Diskussion der Person des Kandidaten und seiner bisherigen beruflichen Erfahrungen, seiner politischen Einstellungen oder gar privater Belange[54] unterbleibt meist.
5. Mehrheitserfordernisse
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Für die Wahl eines Verfassungsrichters ist in nahezu allen Fällen, in denen das Parlament zuständig ist, eine qualifizierte Mehrheit gefordert. In aller Regel bedarf es zur Wahl eines Verfassungsrichters einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen in der jeweils zuständigen Kammer des Parlaments. Dies ist die Rechtslage in Belgien,[55] in Deutschland,[56] in Italien,[57] in Portugal[58] und in Ungarn.[59] In Spanien ist für die vom Parlament zu wählenden Richter bloß eine Dreifünftel-Mehrheit gefordert,[60] dasselbe Mehrheitserfordernis gilt in Italien, wenn in den ersten beiden Wahlgängen keine Zweidrittelmehrheit erreicht werden konnte.[61] In der Schweiz[62] und in Österreich[63] reichen jeweils die einfache Mehrheit in der Bundesversammlung bzw. im National- oder Bundesrat aus.[64] In Deutschland besteht insoweit eine Besonderheit, als bei den vom Bundestag zu wählenden Richtern sowohl im zunächst zuständigen vorschlagsberechtigten Wahlausschuss als auch im Plenum des Bundestags bei der eigentlichen Wahl eine Zweidrittelmehrheit gefordert wird.[65] Schließlich wird in Portugal auch für jene drei Mitglieder, die von den vom Parlament gewählten Richtern kooptiert werden, eine qualifizierte Mehrheit von 70 % des Richterkollegiums gefordert.[66]
6. Sonderformen der Bestellung (Kooptierung, ex lege-Mitgliedschaften)
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In einzelnen Staaten finden sich Sonderformen der Bestellung jenseits der Wahl durch die Parlamente oder des Vorschlags durch die Regierung. In Portugal dürfen jene zehn Richter, die vom Parlament gewählt werden, die übrigen drei Richter im Wege einer Kooptierung nominieren.[67]
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Einen Sonderfall bildet hier der französische Conseil Constitutionnel. Ihm gehören neben den neun vom Präsidenten und dem Parlament bestellten Richtern ex constitutione die ehemaligen Staatspräsidenten an. In der Praxis sind Staatspräsidenten nur selten zu den Sitzungen erschienen. Regelmäßig führt vor allem die Unvereinbarkeit mit einem Wahlamt dazu, dass Staatspräsidenten nicht an den Sitzungen teilnehmen. Aus diesem Grund konnte Giscard d’Estaing bis zum Jahr 2004 nicht an Sitzungen teilnehmen. Die Teilnahme von Nicholas Sarkozy in den Jahren 2012/13 führte zu einer Debatte über eine Abschaffung dieser Art von Mitgliedschaft zum Conseil Constitutionnel.
7. Faktische Entscheidungsmacht jenseits der Organzuständigkeiten
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Die Zusammensetzung der Gerichte wird nicht nur von den formalen Zuständigkeiten zur Wahl oder Bestellung bestimmt, sondern auch von Übungen und politischen Usancen, die nicht in den Regelungen der Verfassungen abgebildet sind. In Bundesstaaten ist häufig ein Regionalproporz anzutreffen. Im Fall von Belgien ist er ausdrücklich angeordnet, in Deutschland – und deutlich abgeschwächt – in Österreich ergibt er sich nur im Ausgangspunkt aus der Zuständigkeit des Bundesrats zur Wahl eines Teils der Richter, im Übrigen aber aus politischen Absprachen.
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Die Nähe zu bestimmten Parteien oder die beratende Tätigkeit für bestimmte Organe begünstigt die Wahl in das Verfassungsgericht. In Deutschland wurden in der Vergangenheit immer wieder ehemalige Regierungsmitglieder, insbesondere aus Landesregierungen, zu Richtern gewählt. Der Einfluss der Länder manifestiert sich darin, dass bei Regierungskoalitionen auf Landesebene, die von jener auf Bundesebene abweichen, die nicht in der Bundesregierung vertretenen Parteien Einfluss auf die Wahl eines Verfassungsrichters haben.
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In Österreich sind die der Politik nächsten Richter jene, die zuvor in Kabinetten von Bundesministern gearbeitet haben. Für Parlamentarier schließt die Bundesverfassung einen unmittelbaren Wechsel insofern aus, als Personen, die bei der letzten Wahl für eine bestimmte Gesetzgebungs- oder Funktionsperiode gewählt wurden, für die Dauer der Wahlperiode nicht zum Verfassungsrichter bestellt werden dürfen, und zwar selbst dann, wenn sie vorzeitig auf ihr Mandat verzichtet haben. In Bezug auf das Amt des Präsidenten und jenes des Vizepräsidenten ist darüber hinaus eine fünfjährige „Abkühlfrist“ nach Beendigung der Tätigkeit (nicht der Wahlperiode), und zwar auch für ehemalige Mitglieder einer Bundesregierung vorgesehen. Die Wahl eines Ministers zum einfachen Richter des Verfassungsgerichts ist dagegen ohne weiteres möglich, ein solcher Fall hat jedoch in der jüngeren Geschichte nur einmal stattgefunden. In Deutschland sind dagegen einige ehemalige Mitglieder von Landesregierungen Richter des Bundesverfassungsgerichts, zuletzt wurde ein Mitglied des Bundestags zum Vizepräsidenten des Gerichts gewählt.
8. Regelungen im Fall von Konflikten und Verzögerungen
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Einzelne Mitgliedstaaten treffen Vorkehrungen für den Fall, dass die Bestellung eines Nachfolgers nicht rechtzeitig erfolgen kann. Dieser Fall tritt regelmäßig dann ein, wenn ein Richter durch Tod oder durch überraschenden bzw. kurzfristigen Rücktritt aus dem Amt scheidet. In solchen Fällen wird die Funktion des Gerichts meist deshalb nicht beeinträchtigt, weil die Verfassungen und die Organisations- und Verfahrensgesetze regelmäßig vorsehen, dass die Gerichte auch mit einer geringeren Präsenz handlungsfähig sind. In Österreich sind überdies sechs Ersatzmitglieder vorhanden. In Deutschland ist vorgesehen, dass ein Richter solange im Amt bleibt, bis sein Nachfolger gewählt ist.[68] Gleiches gilt für den EGMR.[69]
1. Staatsangehörigkeit
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Eine grundlegende und vielleicht deshalb nicht durchgehend ausdrücklich normierte Voraussetzung für die Bestellung zum Richter eines nationalen Verfassungsgerichts ist, dass dieser Staatsbürger des jeweiligen Landes ist. Dennoch findet sich dieses Erfordernis zum Teil explizit in jenen Rechtsvorschriften, die sich mit der Richterbestellung befassen: So machen beispielsweise das portugiesische, das spanische sowie das ungarische Gesetz über das Verfassungsgericht die jeweilige Staatsbürgerschaft zur Voraussetzung, um als Verfassungsrichter bestellt zu werden.[70] Mitunter ergibt sich das Staatsangehörigkeitserfordernis auch indirekt aus einer anderen Bestellungsvoraussetzung: Dies trifft auf die Schweiz zu, wo zum Bundesrichter nur gewählt werden kann, wer stimmberechtigt (und nicht entmündigt) ist, woraus sich ergibt, dass nur Schweizer Staatsbürger in Frage kommen.[71] Teilweise muss auf allgemeine Regelungen für Staatsbedienstete zurückgegriffen werden, um das Staatsbürgerschaftserfordernis zu begründen: Dieses bleibt beispielweise in Österreich in jenen die Bestellung der Richter des Verfassungsgerichtshofes regelnden Vorschriften[72] unerwähnt, weswegen auf Art. 3 des Staatsgrundgesetzes von 1867[73] zurückgegriffen werden muss, um die österreichische Staatsbürgerschaft als Bestellungsvoraussetzung zu begründen.[74] Dass Ausnahmen die Regel bestätigen, zeigt das Beispiel Liechtenstein: Der Staatsgerichtshof hat lediglich mehrheitlich aus Richtern zu bestehen, welche das liechtensteinische Landesbürgerrecht besitzen.[75] Diese Regelung