Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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politischen Verbänden oder Stiftungen, die mit ihnen verbunden sind, wahrnehmen dürfen; sie dürfen auch nicht an (partei-)politischen Aktivitäten öffentlicher Art beteiligt sein.[126] Mitunter wird auch die privatwirtschaftliche Tätigkeit von Verfassungsrichtern beschränkt: So dürfen beispielsweise ungarische Verfassungsrichter grundsätzlich überhaupt keiner auf Gewinn ausgerichteten wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen.[127] Jedoch wird – ebenso wie bei vielen anderen Verfassungsgerichten – die Nebentätigkeit als Hochschullehrer von diesen Verboten ausgenommen.[128]

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      Insgesamt zeigt sich, dass das Amt des Verfassungsrichters zunehmend als exklusive berufliche Tätigkeit verstanden wird, deren Unabhängigkeit es verlangt, dass der jeweilige Richter andere öffentliche oder zum Teil auch privatwirtschaftliche Funktionen zurücklegt. Während dieses Prinzip bei öffentlichen Ämtern nahezu nahtlos durchgehalten wird, werden privatwirtschaftliche Tätigkeiten in weiterem Rahmen zugelassen. Fast schon europäischer Standard ist die Privilegierung der Tätigkeit als Hochschullehrer.

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      Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bestellung von Verfassungsrichtern bilden nur einen Teil der Bedingungen. Die faktische Auswahl wird daneben stark mitbestimmt von der Verfassungskultur des Landes. Soweit qualifizierte Quoren verfassungsrechtlich vorgegeben werden, wird der Zwang zum Kompromiss in der Verfassung unmittelbar deutlich. Aber auch darüber hinaus gehend lässt sich in vielen Staaten beobachten, dass in der Tendenz keine Richter bestellt werden, die konsequente Parteigänger sind oder extreme Positionen vertreten. In Österreich hielt sich auch in Zeiten der Alleinregierung einer großen Partei die Übung, der größten Oppositionspartei einen maßgeblichen Einfluss auf die Bestellung einer bestimmten Zahl von Richtern zu lassen.[129]

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      Dem stehen jedoch Beispiele gegenüber, in denen es im Gefolge des Wechsels von Mehrheiten im Parlament zu Konflikten um die Wahl von Richtern kommt, die im Ergebnis auch zu echten Verfassungskrisen führen konnten. Das jüngste und wohl negativste Beispiel in der jüngeren Geschichte Europas sind die Richterwahlen rund um die Parlamentswahl vom Oktober 2015 in Polen.[130] Anlassbezogene Änderungen der Regelungen des Gesetzes vor der Wahl (durch die alte Mehrheit) und nach der Wahl (durch die neue Mehrheit) haben zur Wahl einer Zahl von Richtern geführt, die über jene hinausging, die in der Verfassung vorgesehen war.

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      Auch in Ungarn war in den Jahren 2011/12 zu beobachten, dass die Parlamentsmehrheit die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und in der Folge die Mehrheitsverhältnisse bereits kurzfristig dadurch beeinflusste, dass eine Erhöhung der Zahl der Richter von elf auf 15 Richter vorgesehen wurde.

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      Ein vergleichender Blick auf die tatsächliche Zusammensetzung der Verfassungsgerichte fördert einige interessante Einsichten zutage, die in der Untersuchung bloß der verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht deutlich werden.

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      Ein gemeinsames Merkmal der Zusammensetzung einer Reihe von Verfassungsgerichten ist die Mitgliedschaft einer größeren Anzahl von Professoren. In Deutschland, Italien, Polen, Portugal, Spanien und in Ungarn bilden sie die am stärksten vertretene Berufsgruppe, in fast allen dieser Fälle sind sie sogar in der (absoluten) Mehrheit. Dagegen sind Verfassungsrichter in Österreich und in Belgien nur etwa zu einem Drittel Professoren, in beiden Staaten sind ehemalige Beamte aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung am stärksten vertreten, wiewohl nicht wenige von diesen Lehrtätigkeiten an Universitäten entfalten. Noch stärker sind Vertreter aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung einschließlich der Politik in Frankreich vertreten. Der Conseil constitutionnel weist dafür kaum Professoren und Richter als Mitglieder aus.

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      Der Anteil von (ehemaligen) Berufsrichtern aus der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich.[131] Am größten ist der Anteil in Deutschland, Italien, Spanien und in Portugal, dort machen sie gemeinsam mit den Professoren nahezu alle Richter aus. Dagegen finden sich in Ungarn lediglich drei, in Polen zwei Berufsrichter. Im österreichischen Verfassungsgericht ist derzeit gar kein Berufsrichter vertreten.

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      Fast in jedem Gericht finden sich einige wenige ehemalige Politiker, am stärksten ist dieser Anteil in Frankreich und in Belgien, die prominentesten ehemaligen Politiker sind mit ehemaligen Ministern und Ministerpräsidenten auf Landesebene in Deutschland, auf zentraler Ebene in Frankreich anzutreffen.

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      In mehreren Verfassungsgerichten finden sich unter den Richtern auch (ehemalige) Rechtsanwälte. In Österreich ist dieser Anteil mit knapp einem Viertel am höchsten; dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass hier die Mitgliedschaft im Verfassungsgericht die Fortsetzung der Tätigkeit als Rechtsanwalt nicht ausschließt, weil das Amt des Verfassungsrichters formal immer noch ein Nebenamt ist.

VI. Europarechtliche Anforderungen und Rahmenbedingungen

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      Die EMRK enthält verschiedene Berührungspunkte mit der Verfassungsgerichtsbarkeit. Im Wesentlichen besteht die Anknüpfung darin, dass die EMRK von einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl in ihren Einzelgarantien (Art. 6, 13) als auch im Verfahrensrecht (insbes. Art. 34) ausgeht.

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      Es ist heute unbestritten, dass die Garantie des fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen auch im Normenkontrollverfahren.[132] Damit ist das Erfordernis verbunden, dass das Gericht unabhängig und unparteilich ist. Die Erfüllung dieser Kriterien wird maßgeblich durch das Verfahren der Bestellung und die Garantien für die Richter bestimmt.[133] Die Zuständigkeiten von Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt beeinträchtigen für sich genommen die Unabhängigkeit nicht, solange hinreichende Garantien gegen die Abberufung bestehen und die Amtsdauer ein Mindestmaß überschreitet. Zwar ist bei den meisten Verfassungsgerichten eine kürzere Amtsdauer als bei Berufsrichtern in der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen. Die von der EMRK geforderte Mindestdauer der Bestellung wird jedoch in allen Verfassungsgerichten überschritten. Am unteren Rand befinden sich unter diesem Gesichtspunkt der Staatsgerichtshof in Liechtenstein mit einer Amtsdauer von fünf Jahren und der Gerichtshof der Europäischen Union mit sechs Jahren. Zu Lasten der Unabhängigkeit fällt in beiden Fällen ins Gewicht, dass eine (auch mehrfache) Wiederwahl möglich ist. Dennoch besteht kein Zweifel, dass beide Gerichte den Anforderungen des Art. 6 EMRK in organisatorischer Hinsicht genügen. Demgegenüber wurde für den EGMR mit dem 14. Protokoll eine neunjährige Amtsdauer ohne Möglichkeit der Wiederwahl eingeführt. Von diesem Standard gehen auch die meisten Verfassungen für die jeweiligen Verfassungsgerichte aus.

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      Auch durch Art. 13 EMRK ist ein Mindestmaß an Unabhängigkeit der Beschwerdeinstanz gefordert,[134] das allerdings nicht über die Anforderungen des Art. 6 EMRK hinausgeht, vielmehr allgemeiner formuliert ist. Die Verfassungsbeschwerde erfüllt in vielen Fällen die Funktion, effektiven Rechtsschutz i.S.d. Art. 13 EMRK zu erfüllen.[135]

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      Mit Art. 13 EMRK steht die Zulässigkeitsvoraussetzung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges nach Art. 35 EMRK in engem Zusammenhang. Nur eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit gehört zu


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