Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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was ebenfalls die Einreichung von Verfassungsklagen unmittelbar gegen Gesetze erleichtert.[39] Umgekehrt ist die konkret-repressive Normenkontrolle (question prioritaire de constitutionnalité) in Frankreich, wo bis zur Verfassungsreform von 2008 nur die abstrakt-präventive Form der Normenkontrolle vorgesehen war, bereits kurz nach ihrer Einführung zur quantitativ wichtigsten Verfahrensart aufgestiegen, weil sie dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, über den Umweg der Cour de Cassation bzw. des Conseil d’État bereits in Kraft getretene Gesetze zur Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Verfassung vor den Verfassungsrat zu bringen (dazu ausführlich unten IV. 2.).[40]

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      Ein in der Literatur häufig benutztes Unterscheidungskriterium bezieht sich auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Kontrolle. Prüft das Verfassungsgericht die gesetzlichen Bestimmungen bereits vor ihrer Verkündung und Bekanntmachung im Gesetzblatt auf ihre Verfassungsmäßigkeit, so spricht man von einer präventiven Normenkontrolle; bezieht sie sich hingegen auf ein bereits in Kraft getretenes Gesetz, handelt es sich um eine repressive Normenkontrolle.

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      Die fakultative präventive Normenkontrolle war lange Zeit das Kernstück des von der französischen Verfassung von 1958 errichteten Systems der Verfassungskontrolle. Sowohl die allgemeine Normenkontrolle (Art. 61 Abs. 1 französische Verfassung) als auch der Sonderfall der Kontrolle von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 54 französische Verfassung) war ursprünglich als rein präventive Kontrolle konzipiert. Für Ratifizierungsgesetze gilt diese Einschränkung unverändert weiter. Von den anderen Ländern des europäischen Rechtsraums haben hingegen nur wenige ein Verfahren zur präventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eingeführt. Ein Beispiel ist Portugal, wo die präventive Normenkontrolle als verfassungsgerichtliches Regelverfahren eingeführt wurde,[41] ein anderes Rumänien[42]. Eine eigenständige, besonders weitgehende Form der präventiven Normenkontrolle war in den Anfangsjahren einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn vorgesehen. Danach konnten auch parlamentarisch noch nicht abschließend beratene Gesetzesentwürfe zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt werden – eine Lösung, die schier unauflösliche Gewaltenteilungsprobleme heraufbeschwor, da sie das Verfassungsgericht zur Intervention in ein schwebendes Gesetzgebungsverfahren ermächtigte, und deshalb durch eine Reform des ungarischen Verfassungsgerichtsgesetzes 1998 wieder abgeschafft wurde.[43]

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      Die Zurückhaltung gegenüber der präventiven Normenkontrolle als verfassungsgerichtliches Regelverfahren besagt allerdings nicht, dass die Gerichte in der Praxis nicht ad hoc auf ein solches Verfahren zurückgreifen würden, falls dies aus praktischen Gründen unumgänglich oder geboten erscheint. Ein wichtiges Beispiel ist die präventive Kontrolle der Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen durch das BVerfG.[44] Anders als beispielsweise das französische Recht[45] kennt weder das GG noch das BVerfGG ein Verfahren zur Vorabkontrolle der Vereinbarkeit noch nicht ratifizierter völkerrechtlicher Verträge mit der Verfassung. Würde im Zuge der nachträglichen Normenkontrolle festgestellt, dass die von der Bundesrepublik Deutschland durch Ratifizierung eines entsprechenden Übereinkommens übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht im Einklang mit den Bestimmungen des GG stehen, so wären die zuständigen Organe der Bundesrepublik vor die unangenehme Alternative gestellt, entweder das Urteil des BVerfG zu befolgen und die wirksam eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik zu ignorieren oder umgekehrt mit der Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen um den Preis der Nichtbefolgung der nach § 31 BVerfGG innerstaatlich bindenden Entscheidung des BVerfG fortzufahren. Um dieses Dilemma zu vermeiden, hat das BVerfG in ständiger Rechtsprechung eine präventive Normenkontrollklage gegen Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen zugelassen.[46] Auf das Verfahren finden im Übrigen die gesetzlichen Bestimmungen über die abstrakte Normenkontrolle bzw. die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze Anwendung.[47]

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      Der Kreis der Antragsteller ist bei der präventiven Normenkontrolle regelmäßig auf staatliche Institutionen und Akteure beschränkt. Ein individuelles Klagerecht ist denkbar, aber nicht unbedingt naheliegend, da es vor dem Inkrafttreten des Gesetzes an der konkreten Möglichkeit einer Verletzung individueller Rechte regelmäßig fehlt. So war in Frankreich der Kreis der Antragsberechtigten im Normenkontrollverfahren zunächst auf die obersten Staatsorgane – Staatspräsident, Premierminister, Präsidenten der gesetzgebenden Kammern – beschränkt. Eine einschneidende Veränderung trat erst mit der Verfassungsreform von 1974 ein. Indem die Reform das Antragsrecht im präventiven Normenkontrollverfahren auf die Mitglieder der Nationalversammlung und des Senats erstreckte und für die Ausübung dieses Rechts ein vergleichsweise niedriges Quorum vorschrieb – 60 Abgeordnete der Nationalversammlung oder 60 Senatoren[48] – wurde dieses verfassungsgerichtliche Verfahren zu einem echten Kontrollinstrument der parlamentarischen Minderheiten weiter entwickelt. Die Reform bereitete den Weg für die dramatische Zunahme von Normenkontrollverfahren seit den achtziger Jahren, als im Zeichen wiederholter Machtwechsel die Opposition den Conseil constitutionnel als Forum entdeckte, in dem der Kampf gegen politisch unerwünschte Reformvorhaben mit juristischen Mitteln fortgesetzt werden konnte.[49]

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      Die portugiesische Verfassung, die das französische Modell der präventiven Normenkontrolle übernommen hat, räumt hingegen nur dem Präsidenten der Republik das unbeschränkte Recht ein, eine präventive Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht zu beantragen (Art. 279 Abs. 1).[50] Dem Premierminister sowie einem Fünftel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Parlaments steht diese Befugnis nur in Bezug auf Organgesetze zu (Art. 278 Abs. 4). In Ungarn, wo die präventive Normenkontrolle abschließend beratener und beschlossener Gesetze in der Verfassung von 2011 wieder vorgesehen ist, ist das Recht, eine solche Kontrolle zu beantragen, dem Staatspräsidenten und dem Parlament vorbehalten, wobei letzteres nur auf Antrag der Regierung, des Parlamentspräsidenten oder des Urhebers des fraglichen Gesetzentwurfs tätig werden kann (Art. 6 Abs. 2 und 4 ungarisches Grundgesetz). Damit bleibt die präventive Normenkontrolle ein Instrument in den Händen der Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit.[51]

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      Die präventive Normenkontrolle findet regelmäßig innerhalb eines engen zeitlichen Rahmens und damit unter erheblichem Zeitdruck statt. So muss in Frankreich der Conseil constitutionnel innerhalb eines Monats entscheiden. In dringenden Fällen kann diese Frist sogar auf acht Tage verkürzt werden. Die Entscheidung über die Dringlichkeit trifft dabei nicht der Verfassungsrat selbst, sondern die Regierung (Art. 61 Abs. 3). Die sehr knappen Fristen sind umso einschneidender, als immer der gesamte vom Parlament verabschiedete Gesetzestext auf dem Prüfstand steht, und zwar auch dann, wenn die Antragsteller nur bestimmte Vorschriften des Gesetzes als verfassungswidrig rügen.[52] Bei komplexen Gesetzgebungswerken ist daher im Rahmen dieses Verfahrens eine in die Tiefe gehende Prüfung einzelner Bestimmungen kaum möglich.[53] Ähnlich kurz bemessen sind die Fristen für das präventive Normenkontrollverfahren in Portugal, wo das Gericht innerhalb von 25 Kalendertagen abschließend über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes befinden muss.[54] Auch für eine mündliche Verhandlung bleibt angesichts des großen Zeitdrucks kein Raum: die Beteiligten werden nur schriftlich angehört.[55]

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      Der Schwerpunkt bei der Ausgestaltung der Normenkontrolle in den Ländern des europäischen Rechtsraums liegt indes auf der repressiven Normenkontrolle. Während die präventive Normenkontrolle nur als abstrakte denkbar ist, weil die Norm vor ihrer konkreten Anwendung überprüft wird, kann die repressive Normenkontrolle sowohl als abstrakte als auch als konkrete ausgestaltet werden. In der zweiten Variante ist der Auslöser für die Normenkontrolle die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens, für dessen Ausgang es auf die


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