Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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dem Verfassungsrat mit Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden. Umgekehrt kann der Verfassungsrat eine ihm vom Conseil d’État oder der Cour de Cassation zur Entscheidung vorgelegte Frage nicht mit der Begründung zurückweisen, die von der Verfassung und dem Verfassungsgerichtsgesetz aufgestellten Voraussetzungen für eine Entscheidung im Vorlageverfahren seien gar nicht erfüllt.

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      Im deutschen Verfassungsprozessrecht wird die Filterfunktion weder durch die restriktive Abgrenzung der vorlageberechtigten Spruchkörper noch durch die Einschaltung der obersten Fachgerichte verwirklicht, sondern durch die in Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG formulierten Anforderungen an die Zulässigkeit der Vorlage: das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten gesetzlichen Bestimmungen überzeugt sein, bloße Zweifel reichen nicht aus. Die Gründe für diese Überzeugung müssen ebenso wie die Gründe für die Entscheidungserheblichkeit der möglicherweise verfassungswidrigen Norm in dem Vorlagebeschluss an das BVerfG eingehend und nachvollziehbar ausgeführt werden. Genügt der Vorlagebeschluss diesen Anforderungen nicht, weist das BVerfG die Vorlage als unzulässig zurück.[65]

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      Prüfungsmaßstab im Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist das gesamte Verfassungsrecht, wie es auch bei der abstrakten Normenkontrolle Anwendung findet. Eine signifikante Abweichung von der bei der abstrakten Normenkontrolle geltenden Rechtslage ergibt sich aber in Frankreich: hier können nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 61-1 nur die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten Prüfungsmaßstab sein. Mit der Einführung dieser auf den Schutz der verfassungsmäßigen Grund- und Menschenrechte beschränkten Form der konkreten Normenkontrolle in der Verfassungsreform von 2008 hat die tiefgreifende Umgestaltung des Instituts der Normenkontrolle im französischen Verfassungsrecht, die mit der Entscheidung des Conseil constitutionnel im Fall Liberté d’association 1971 ihren Anfang genommen hatte, ihren vorläufigen Abschluss gefunden.[66]

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      Zudem lässt sich an der Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle erkennen, dass diese Verfahrensart im französischen System auch die Funktion einer Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze (mit-)erfüllt. Dies zeigt sich insbesondere an der prozessualen Stellung der Parteien des Ausgangsrechtsstreits im Vorlageverfahren. Sie unterscheidet sich erheblich von der marginalisierten Rechtsstellung, die den Parteien des Ausgangsrechtsstreits in Verfahren der konkreten Normenkontrolle in Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit häufig zugewiesen ist. Die konkrete Normenkontrolle ist dort regelmäßig als Dialog zwischen den Gerichten angelegt, in denen die Initiative und die Vorstrukturierung der verfassungsrechtlichen Frage durch Aufbereitung des konkreten Anwendungszusammenhangs dem vorlegenden Gericht, die Entscheidungsfunktion dem Verfassungsgericht und die Umsetzung der Entscheidung wieder dem vorlegenden Gericht zukommt. Im französischen System hingegen kommt den Parteien des Ausgangsrechtsstreits bzw. dem Angeklagten im Strafverfahren eine zentrale Rolle zu. Nur auf ihren Antrag hin darf das Prozessgericht prüfen, ob eine Vorlage in Betracht kommt, und die Frage an den Conseil d’État oder die Cour de Cassation zur Entscheidung weiterleiten. Wird die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf Beschluss des Conseil d’État bzw. der Cour de Cassation dem Verfassungsrat zur Klärung vorgelegt, so muss der Antragsteller die Gelegenheit erhalten, in einer kontradiktorischen mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsrat darzulegen, warum seiner Ansicht nach die fragliche Bestimmung verfassungswidrig bzw. verfassungskonform ist.[67] Erst seit dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen zu Art. 61-1 der Verfassung im Verfassungsgerichtsgesetz im Jahr 2010 ist es damit Privatpersonen zum ersten Mal überhaupt möglich, in Verfahren vor dem Verfassungsrat aufzutreten und ihre Argumente vorzutragen.

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      Für die konkrete Normenkontrolle von zentraler Bedeutung ist die Abgrenzung der jeweiligen Funktionen von Verfassungsgericht und vorlegendem Gericht. Auf dem Papier lässt sich diese Arbeitsteilung klar durchführen: für die Auslegung des einfachen Rechts und damit auch des vorgelegten Gesetzes ist das vorlegende Fachgericht zuständig, für die Auslegung der Verfassung hingegen das Verfassungsgericht. In der Praxis hingegen ist die Abgrenzung alles andere als einfach: insbesondere in der Frage, ob eine verfassungskonforme Auslegung des vorgelegten Gesetzes möglich ist, kann es leicht zu einer Überschneidung der Kompetenzen von Verfassungsgericht und Fachgerichten kommen.[68]

Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle
Vorabentscheidungsverfahren Rechtsmittelverfahren
Vorlage direkt zum Verfassungsgericht Belgien, Deutschland, Italien, Polen, Spanien, Ungarn Portugal, Ungarn
Vorlage über Obergericht Frankreich

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      Die Regelung der Entscheidungswirkungen wirft unterschiedliche Fragen auf, je nachdem, ob es sich um eine Entscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren oder um eine repressive Normenkontrolle handelt. Vergleichsweise unproblematisch ist die stattgebende Entscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren: die für verfassungswidrig befundene Norm kann nicht in Kraft treten. Dasselbe gilt für diejenigen Vorschriften, die mit den ausdrücklich für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen aufgrund ihrer engen sachlichen Verbundenheit eine untrennbare Einheit bilden und daher nicht ohne diese in Kraft treten können.[69]

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      Anders sieht es hingegen bei Entscheidungen aus, die einen Normkontrollantrag als unbegründet verwerfen. Hier ist zu entscheiden, inwieweit sie auch Bindungswirkung für eine spätere repressive Kontrolle derselben Norm entfalten, genauer: ob die Rechtskraft der Entscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren der Zulässigkeit jeder weiteren Kontrolle der fraglichen Bestimmung nach Inkrafttreten entgegensteht. In Frankreich entfaltet eine Entscheidung, welche die Verfassungsmäßigkeit einer vor dem Conseil constitutionnel im präventiven Normenkontrollverfahren beanstandeten und von ihm überprüften Norm feststellt, Rechtskraftwirkung und steht einer späteren erneuten Überprüfung entgegen. Dagegen geht der Conseil constitutionnel im Tenor seiner Entscheidung nicht auf die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen ein, die nicht speziell gerügt worden sind oder deren Verfassungswidrigkeit er nicht von Amts wegen feststellt. Insoweit tritt auch keine Rechtskraftwirkung ein: da die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen nicht abschließend geprüft worden ist, können sie nach ihrem Inkrafttreten im Rahmen der 2008 eingeführten repressiven Normenkontrolle zur Überprüfung gestellt werden.[70] Schwächer sind die Entscheidungen des portugiesischen Verfassungsgerichts im präventiven Normenkontrollverfahren ausgestaltet, die in Form einer pronúncia, einer Stellungnahme, ergeht. Stellt die pronúncia nicht die Verfassungswidrigkeit der zur Überprüfung gestellten Bestimmung fest, kann das Gesetzgebungsverfahren weiter laufen und es besteht kein verfassungsrechtliches Hindernis für die Ausfertigung und Verkündung der fraglichen Vorschriften. Eine irgendwie geartete Rechtskraftwirkung kommt dieser Stellungnahme nicht zu: nach Inkrafttreten des Gesetzes kann die Verfassungsmäßigkeit all seiner Bestimmungen vom Verfassungsgericht im Rahmen sowohl der nachträglichen abstrakten Gesetzeskontrolle als auch der konkreten Normenkontrolle ohne Einschränkungen überprüft werden.[71]

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      Bei den verschiedenen Formen der repressiven Normenkontrolle stellt sich die Frage, wie im Falle einer stattgebenden Entscheidung mit den Rechten und Rechtsverhältnissen zu verfahren ist, die auf der Grundlage der für verfassungswidrig erklärten Norm bereits entstanden sind. Eine für verfassungswidrig erklärte Norm verliert grundsätzlich mit der Veröffentlichung der verfassungsgerichtlichen


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