Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
der Judikative. Durch Organgesetz ist die Beteiligungsfähigkeit überdies auf den Rechnungshof erstreckt worden.[93] Art. 73 Abs. 1 LOTC bestimmt dabei ausdrücklich, dass die in Art. 59 Abs. 1 c) als beteiligungsfähig genannten Kollegialorgane (Regierung, parlamentarische Kammern, Generalrat der rechtsprechenden Gewalt) den Kompetenzstreit nur mit Zustimmung des jeweiligen Plenums anhängig machen können („por acuerdo de sus respectivos Plenos“). Einzelne Abgeordnete oder parlamentarische Minderheiten können also im Kompetenzstreit weder eigene Rechte noch die Rechte des Parlaments geltend machen. Diese Bestimmung schränkt den Anwendungsbereich des Organstreits unter den Bedingungen des Mehrheitsparlamentarismus stark ein.[94]
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Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Abgeordneten und Fraktionen in den Parlamenten bei einer Verletzung ihrer Mitwirkungsrechte durch die parlamentarische Mehrheit bzw. die parlamentarischen Leitungsinstanzen schutzlos sind. Vielmehr kommt hier die bereits eingangs (siehe oben Rn. 40 ff.) diskutierte, implizit oder explizit in vielen Ländern des europäischen Rechtsraums praktizierte Subsidiarität des Organstreitverfahrens zum Tragen. In Spanien können die Mitglieder parlamentarischer Vertretungskörperschaften die Individualverfassungsbeschwerde (recurso de amparo) zur Verteidigung ihrer Mitwirkungsrechte erheben. Dies folgt nach Auffassung des spanischen Verfassungsgerichts daraus, dass auf der Grundlage des Art. 23 spanische Verfassung die Mitwirkungsrechte der gewählten Mitglieder politischer Vertretungskörperschaften den politischen Aktivrechten der Bürgerinnen und Bürger, von denen sie gewählt werden, gleichzustellen sind.[95] Ebenso wie diese ihr aktives und passives Wahlrecht mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen können, sind auch die Mitglieder der Volksvertretungen auf den verschiedenen Stufen des Staatsaufbaus berechtigt, ihre individuellen und kollektiven Mitwirkungsbefugnisse notfalls im Verfassungsbeschwerdeverfahren durchzusetzen.[96]
bb) Deutschland: das Organstreitverfahren als Instrument des politischen Minderheitenschutzes
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In Deutschland gehören nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zu den möglichen Parteien eines Organstreits die obersten Bundesorgane und die „sonstigen Beteiligten“, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. § 63 BVerfGG konkretisiert den Begriff des obersten Bundesorgans dahingehend, dass dazu nur der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung zählen, d.h. die obersten politischen Organe. Anders als etwa in Italien und Österreich wird damit den Organen der Rechtsprechung mit dem BVerfGG an der Spitze der Zugang zum verfassungsgerichtlichen Verfahren mit dem Ziel der verbindlichen Klärung ihrer verfassungsmäßigen Rechte generell verwehrt. Es ist allerdings umstritten, ob die in der Einengung des Kreises der beteiligungsfähigen Organe auf die obersten politischen Organe in § 63 BVerfGG liegende Verkürzung der in Art. 93 Abs. 1 gebrauchten Formulierung, die ausdrücklich von „anderen Beteiligten, die durch dieses Grundgesetz […] mit eigenen Rechten ausgestattet sind“ spricht, verfassungskonform ist.[97] In der Praxis sind jedenfalls Organe der rechtsprechenden Gewalt in verfassungsgerichtlichen Organstreitverfahren nie als Partei aufgetreten.
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Dagegen geht das Grundgesetz insoweit über andere Verfassungen hinaus, als nicht nur die obersten Bundesorgane, sondern auch die im Grundgesetz oder in den Geschäftsorganen der obersten Bundesorgane ausgestatteten Teile dieser Organe Antragsteller und Antragsgegner im Organstreitverfahren sein können. Das BVerfG zählt zu diesen „Organteilen“ in ständiger Rechtsprechung insbesondere die Parlamentsfraktionen.[98] Die einzelnen Abgeordneten sind hingegen „sonstige Beteiligte“, die ihren verfassungskräftig garantierten Abgeordnetenstatus ebenfalls mit der Organklage verteidigen können.[99] Der Anwendungsbereich des Organstreits wird ferner dadurch erweitert, dass den „Organteilen“ nicht nur die Geltendmachung eigener Rechte, sondern darüber hinaus auch die prozessstandschaftliche Geltendmachung der Rechte des Organs, dem sie angehören, zugestanden wird (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Die Oppositionsfraktionen können also Rechte des Parlaments notfalls gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit im Organstreitverfahren gegen Übergriffe der Regierung verteidigen.[100]
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Im Vergleich zu anderen Ländern mit einer eigenen Regelung des Organstreitverfahrens wie Polen oder Spanien zeichnet sich die Anwendung dieses Verfahrens durch das BVerfG durch eine ausgesprochen „politische“ Lesart des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und der einschlägigen Bestimmungen des BVerfGG aus. Die im Vergleich zu diesen Ländern weite Auslegung des Organbegriffs zwecks Abgrenzung der Beteiligungsfähigkeit ermöglicht auch den Mitgliedern der gewählten Volksvertretung, die aus ihrem Status als Abgeordnete fließenden Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte vor dem Verfassungsgericht zu verteidigen. Ohne Parallele im europäischen Rechtsraum ist die Anerkennung der Prozessstandschaft im Organstreit, die es gerade den Oppositionsfraktionen ermöglicht, Rechte des Parlaments als Ganzes notfalls auch gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit gegenüber der Regierung verfassungsgerichtlich geltend zu machen. Ausdrücklich beruft sich das BVerfG dabei auf die „Wirklichkeit des politischen Kräftespiels“, in der sich Gewaltenteilung nicht so sehr in der klassischen Gegenüberstellung der geschlossenen Gewaltträger, sondern in erster Linie in der Einrichtung von Oppositions- und Minderheitenrechten verwirkliche. Daher müsse der Parlamentsopposition und -minderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Bundestages nicht nur dann möglich sein, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen wolle, sondern auch dann, wenn die Parlamentsminderheit Rechte des Bundestages gegen die die Bundesregierung politisch stützende Parlamentsmehrheit geltend machen wolle.[101]
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Vor dieser Konsequenz scheuen indes die meisten Verfassungsordnungen zurück, sei es aus Respekt vor der Parlamentsautonomie, sei es aus Sorge vor der mit der Zuweisung hochpolitischer Streitigkeiten verbundenen Belastungsprobe für die Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der Ausklammerung der pluralistisch strukturierten Binnenbeziehungen der politischen Kollegialorgane ist indes eine erhebliche Einschränkung des Anwendungsbereichs des verfassungsrechtlichen Organstreits verbunden, zumal gerade in parlamentarischen Regierungssystemen Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und parlamentarischer Mehrheit regelmäßig im Wege des politischen Dialogs beigelegt werden. So ist dann auch ein Organstreitverfahren, das auf dem klassischen Gegensatz zwischen Exekutive und Legislative aufbaut, in parlamentarischen Systemen wie Spanien nicht zufällig eine Seltenheit.[102] In Präsidialsystemen und parlamentarisch-präsidentiellen „Mischsystemen“, in denen Exekutive und Legislative nicht lediglich institutionell voneinander getrennt sind, sondern auch jeweils über eine selbstständige demokratische Legitimation verfügen, sind hingegen Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Staatsorganen über den jeweiligen Umfang der wechselseitigen Befugnisse denkbar, die nicht auf politischem Wege beigelegt werden können und ein sachliches Bedürfnis nach verfassungsgerichtlicher Klärung begründen. So sind in Polen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen zwar rar, kommen jedoch gerade in politisch brisanten Konflikten durchaus vor.[103]
3. Nicht-kontradiktorische Formen der Klärung von Organkompetenzen
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Wie eingangs (siehe oben Rn. 40 ff.) erwähnt, werden Kompetenzkonflikte zwischen den obersten politischen Staatsorganen häufig nicht in einem eigens für den Zweck der kontradiktorischen Austragung von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen konzipierten Verfahren, sondern in einer anderen verfassungsgerichtlichen Verfahrensart ausgetragen. So werden in Ungarn Meinungsverschiedenheiten über den Umfang der verfassungsmäßigen Befugnisse der obersten Staatsorgane, insbesondere des Staatspräsidenten und des Parlaments, meist im Gewande der (präventiven) Normenkontrolle oder im Verfahren der abstrakten Verfassungsauslegung auf Antrag eines der höchsten Staatsorgane – also gerade nicht im kontradiktorischen Verfahren – verhandelt und entschieden.[104]
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