Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
in den (west-)europäischen Ländern, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit, teils in Anlehnung an das österreichische Modell, einführten, spielte die Individualbeschwerde als spezifische verfassungsgerichtliche Verfahrensart zum Schutz der Grundrechte zunächst eine untergeordnete Rolle. In Italien ist die Individualbeschwerde bis heute weder in der Verfassung noch in den gesetzlichen Regelungen zum Verfassungsgerichtshof vorgesehen. Nur über das Verfahren der konkreten Normenkontrolle hat der Einzelne die Möglichkeit, die Überprüfung einer möglicherweise verfassungswidrigen Norm durch den Gerichtshof zu erreichen. Er bleibt dabei aber immer darauf angewiesen, eine Richterin oder einen Richter zu finden, der gewillt ist, die Norm vorzulegen.[148]
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Auch in der Bundesrepublik Deutschland, in der die Verfassungsbeschwerde im Verlauf der kommenden Jahrzehnte eine herausragende Bedeutung erlangen sollte, war sie ursprünglich im GG gar nicht vorgesehen, sondern wurde zunächst als „weitere Zuständigkeit“ im Sinne des Art. 93 Abs. 2 GG lediglich im BVerfGG verankert. Verfassungsrang erhielt sie erst zwei Jahrzehnte später, als Gegengewicht zur Notstandsverfassung, die in der Bevölkerung Ängste vor einer Rückkehr zu „Weimarer Verhältnissen“ auslöste.[149]
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Seit den siebziger Jahren gewann die Individualbeschwerde als verfassungsgerichtliche Verfahrensart langsam an Bedeutung. Mitte der siebziger Jahre wurde in Österreich[150] die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze eingeführt, und wenige Jahre später wurde eine an das deutsche Vorbild angelehnte Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo) in die neue spanische Verfassung aufgenommen.[151] Aber erst mit dem Ende des Kalten Krieges konnte sich die Individualbeschwerde fest im Arsenal der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit verankern. Im Zuge der Transformation der mittel- und osteuropäischen Staaten und unter dem Einfluss der EMRK wurde sie zu einem wichtigen Instrument der neu entstehenden Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Dieser Prozess setzte sich auch nach der Jahrhundertwende fort: 2010 wurde das Recht auf Verfassungsbeschwerde in die Verfassung der Türkei aufgenommen,[152] 2012 führte der verfassungsändernde Gesetzgeber in Österreich die Individualbeschwerde gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen ein. Häufig waren die entsprechenden Reformen vom Ziel getragen, den Anforderungen der EMRK an einen effektiven innerstaatlichen gerichtlichen Rechtsschutz der Konventionsrechte besser Rechnung zu tragen und künftige Verurteilungen in Straßburg zu vermeiden.[153] Der Einfluss der EMRK zeigt sich dabei nicht nur in der Grundsatzentscheidung für die Einführung des Rechtsbehelfs der Individualbeschwerde, sondern auch in der Ausgestaltung des Verfahrens (Verfahrensgegenstand, Beschwerdebefugnis, Prüfungsmaßstab, Rechtswegerschöpfung).
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Nicht alle europäischen Länder wurden von dieser Reformbewegung in gleicher Weise erfasst. Die Einführung einer verfassungsgerichtlichen Individualbeschwerde war nur ein, wenn auch besonders wichtiger Weg, um die Stellung des Einzelnen im System des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes zu stärken. Ein alternativer Weg war der Ausbau der konkreten Normenkontrolle durch die Stärkung der Rechte der Parteien des Ausgangsrechtsstreits im Vorlageverfahren bzw. die Ausgestaltung dieses Verfahrens als Beschwerdeverfahren. Dieser Weg wurde in Portugal beschritten. Art. 280 der portugiesischen Verfassung sieht eine Beschwerdemöglichkeit in zwei Fallgestaltungen vor. Wenn ein einfaches Gericht eine Norm aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit im konkreten Fall nicht anwendet, kann neben der Staatsanwaltschaft auch die im Rechtsstreit unterlegene Partei Beschwerde einlegen (Art. 280 Abs. 1 lit. a)). Gleiches gilt, wenn eine Norm angewendet wurde, obwohl ihre Verfassungswidrigkeit in dem Verfahren vor dem einfachen Gericht angegriffen wurde (Art. 280 Abs. 1 lit. b)). Die Beschwerdebefugnis der unterlegenen Partei hängt hier davon ab, dass sie bereits im einfachgerichtlichen Verfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm ordnungsgemäß gerügt hat (§ 72 Abs. 2 des portugiesischen VerfGG). Ferner ist die Beschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig (§ 70 Abs. 2 des portugiesischen VerfGG). In der Literatur wird hervorgehoben, dass durch diese prozessuale Ausgestaltung das ursprünglich objektive Normenkontrollverfahren stark auf den subjektiven Rechtsschutz hin ausgerichtet worden ist.[154]
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Noch spektakulärer ist die Entwicklung der (konkreten) Normenkontrolle zu einem Instrument des Individualrechtsschutzes in Frankeich verlaufen. Der Schutz der Grundrechte spielte im System der Verfassungskontrolle, das die französische Verfassung von 1958 errichtete, zunächst praktisch keine Rolle. Die Grundrechte waren nicht einmal Prüfungsmaßstab im Verfahren der (präventiven) Normenkontrolle. Erst durch die Entscheidung „Liberté d’association“ von 1971 bezog der Conseil constitutionnel in einem kühnen Akt der Rechtsfortbildung,[155] in der gleichzeitig auch ein Akt der eigenmächtigen Kompetenzerweiterung lag, die in der Präambel der Verfassung von 1958 in Bezug genommenen Rechteerklärung – die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789 und die Präambel der Verfassung von 1946 – in den „bloc de constitutionnalité“ ein, an dessen Maßstab er die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überprüft.[156] Ein Recht des Einzelnen, ein Verfahren der Normenkontrolle zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit in Gang zu setzen, war damit nicht verbunden. Ein solches Recht konnte nur durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschaffen werden. Eine solche Reform wurde aus Anlass des 200. Jahrestages der großen Erklärung von 1789, der vor dem Hintergrund einer epochalen Zeitenwende in Europa stattfand, die erstmals ganz Europa im Zeichen der revolutionären Ideale von 1789 zu vereinen schien, zwar intensiv diskutiert, aber letztlich doch nicht umgesetzt.[157] Es mussten fast weitere zwei Jahrzehnte vergehen, ehe der verfassungsändernde Gesetzgeber 2008 die Reformvorschläge wieder aufgriff und die Kompetenzen des Conseil constitutionnel um die Zuständigkeit zur konkreten Normenkontrolle in Gestalt der question prioritaire de constitutionnalité erweiterte.
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Die besondere Finalität dieses Verfahrens ist schon im Wortlaut des neuen Art. 61-1 französische Verfassung angedeutet, demzufolge die konkrete Normenkontrolle durch die im Rahmen eines anhängigen Rechtsstreits aufgestellte Behauptung, dass eine gesetzliche Bestimmung die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten verletzt, in Gang gesetzt wird. Es soll in diesem Verfahren, anders als bei der präventiven Normenkontrolle, nicht um die Frage der Verfassungsmäßigkeit im allgemeinen, sondern (nur) um die Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf diejenigen Verfassungsbestimmungen gehen, die „Rechte und Freiheiten“ schützen. Diese grundrechtsschützende Stoßrichtung der „question prioritaire de constitutionnalité“ wird durch die §§ 23-1 bis 23-12 des französischen VerfGG, welche die Modalitäten der Durchführung der konkreten Normenkontrolle regeln, weiter konkretisiert. Danach obliegt es den Parteien des Ausgangsrechtsstreits bzw. der beschuldigten Person im Strafverfahren, die Unvereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit den Grundrechten im Wege der Berufung oder Beschwerde gegen eine erstinstanzliche Gerichtsentscheidung gelten zu machen, in der die fragliche Bestimmung angewendet worden ist. § 23-1 des französischen VerfGG verbietet dem Berufungs- bzw. Beschwerdegericht ausdrücklich, die Frage der Grundrechtswidrigkeit eines Gesetzes von Amts wegen aufzuwerfen. Die Kontrolle über die Einleitung des Normenkontrollverfahrens liegt also allein bei den Parteien des Ausgangsrechtsstreits, nicht bei den Gerichten.[158]
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Diese üben vielmehr eine (freilich wichtige) Filterfunktion aus, indem sie prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Vorlage an den Conseil constitutionnel erfüllt sind: die angegriffene gesetzliche Bestimmung muss in dem anhängigen Rechtsstreit anwendbar sein bzw. die Grundlage des laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bilden, sie darf nicht bereits im Wege der präventiven Normenkontrolle oder in einem anderen konkreten Normenkontrollverfahren vom Verfassungsrat formell (d.h. im Tenor und nicht nur in den Gründen der Entscheidung) für verfassungsgemäß erklärt worden sein, und ihre Verfassungsmäßigkeit muss erhebliche Fragen aufwerfen. Der Filtermechanismus ist zweistufig ausgestaltet: sofern nicht die Frage der Verfassungsmäßigkeit erstmals im Revisionsverfahren vor der Cour de Cassation bzw. dem Conseil d’État aufgeworfen wird, muss das Berufungs- bzw. Beschwerdegericht entscheiden, ob die genannten Voraussetzungen vorliegen, und die Frage bejahendenfalls in einem begründeten Beschluss an das höchste Gericht seiner Gerichtsbarkeit verweisen.