Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
ist. Die Kriterien für diese Prüfung sind dieselben, die das überweisende Gericht angewendet hat, mit einer Modifikation: es kann die Frage der Verfassungsmäßigkeit dem Verfassungsrat auch dann vorlegen, wenn die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmungen zwar keine erheblichen (schwierigen) Fragen, wohl aber neue, noch nicht geklärte Fragen aufwirft (§ 23-4 des französischen VerfGG). Eine Berufungs- oder Beschwerdemöglichkeit gegen die Ablehnung der Vorlage durch die Cour de Cassation bzw. den Conseil d’État ist nicht gegeben.
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Wird hingegen vorgelegt, so rückt die Partei des Ausgangsrechtsstreits, welche die Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmung aufgeworfen hat, auch im Rahmen des Vorlageverfahrens vor dem Conseil constitutionnel in eine Parteistellung ein. Dieses Verfahren ist kontradiktorisch ausgestaltet und wird zwischen der Prozesspartei, welche die Frage der Verfassungsmäßigkeit im Ausgangsverfahren aufgeworfen hat, und dem von der Regierung zur Verteidigung der Verfassungsmäßigkeit der gerügten Gesetzesbestimmung bestellten Vertreter ausgetragen. § 23-10 des französischen VerfGG sieht vor, dass der Prozesspartei die Gelegenheit gegeben werden soll, im Rahmen einer mündlichen Anhörung vor dem Conseil constitutionnel die Argumente, die aus ihrer Sicht für den Grundrechtsverstoß der gerügten Bestimmung sprechen, vorzutragen. Erstmals haben damit auch die Grundrechtsberechtigten die Möglichkeit, in einem Verfahren vor dem Conseil constitutionnel aufzutreten bzw. sich dort anwaltlich vertreten zu lassen.[159] Im Hinblick auf diese klägerfreundliche Ausgestaltung des Vorlageverfahrens erscheint es durchaus gerechtfertigt, von einer Kombination von Gesetzesverfassungsbeschwerde und konkreter Normenkontrolle bzw. von einer Gesetzesverfassungsbeschwerde im Gewande der konkreten Normenkontrolle zu sprechen.
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Diese neue Verfahrensart hat in Frankreich einen geradezu spektakulären Aufschwung genommen. In den ersten zwei Jahren nach Inkrafttreten der Ausführungsregelungen vom 1. März 2010 bis zum 1. November 2012 ergingen bereits 287 Entscheidungen des Conseil constitutionnel in der neuen Verfahrensart. In einem Viertel der vorgelegten Fälle stellte der Conseil constitutionnel die partielle oder vollständige Verfassungswidrigkeit der angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen fest, in weiteren 14 Prozent wurde die Verfassungsmäßigkeit nur unter dem Vorbehalt der verfassungskonformen Auslegung („conformité sous réserve“) festgestellt.[160] Die Einführung der subjektivrechtlich ausgerichteten Normenkontrolle in Frankreich hat ferner rasch Beachtung im Ausland gefunden, insbesondere in den Ländern im Maghreb und im Nahen Osten, die sich im Gefolge des arabischen Frühlings um die Verbesserung des Rechtsschutzes der Bürgerinnen und Bürger durch die Einführung oder Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit bemühten.[161]
Hauptformen der Individualbeschwerde | ||
Direkte Beschwerdemöglichkeit (= Verfassungsbeschwerde, recurso de amparo) | Indirekte Beschwerdemöglichkeit (= konkrete Normenkontrolle) | |
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gegen Gesetze | Belgien, Deutschland, Polen, Spanien, Ungarn, Schweiz (kantonale Gesetze) | Frankreich, Italien, Portugal |
gegen Urteile | Deutschland, Spanien, Ungarn, Schweiz | Portugal (eingeschränkt) |
3. Gegenstand und Prüfungsmaßstab der Individualbeschwerde
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Hinsichtlich des Verfahrensgegenstands der Individualbeschwerde lassen sich zwei Grundansätze unterscheiden. Bei der ersten Form der Individualbeschwerde steht das Schutzobjekt im Vordergrund: das Verfahren dient dem umfassenden Schutz der in der Verfassung geschützten Individualrechte. Mit der Individualbeschwerde können daher alle Akte und Maßnahmen angegriffen werden, die geeignet sind, die freie Ausübung der geschützten Rechte zu beeinträchtigen, unabhängig von ihrer rechtstechnischen Einkleidung oder Qualifizierung. Generell-abstrakte Rechtsakte wie Gesetze und Verordnungen sind damit prinzipiell ebenso zulässiger Angriffsgegenstand im Rahmen der Individualbeschwerde wie konkret-individuelle Rechtsakte, insbesondere Verwaltungsakte, Gerichtsurteile, Beschlüsse und Verfügungen. Aber auch Realakte und selbst Unterlassungen können, sofern sie die ungestörte Ausübung von Grundrechten erschweren oder unmöglich machen, Prüfungsgegenstand im Rahmen der Individualbeschwerde sein. Dieser Ansatz ist in Deutschland und in Spanien verwirklicht. Nach der weiten Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) GG kann die Verfassungsbeschwerde gegen jedes Verhalten der öffentlichen Gewalt erhoben werden, das geeignet ist, die Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte des Beschwerdeführers zu verletzen. Eine bestimmte rechtliche Form des Eingriffsakts ist nicht erforderlich, ja es muss sich überhaupt nicht um einen Rechtsakt handeln. Die Formulierung des Art. 161 Abs. 1 lit. b) der spanischen Verfassung ist ähnlich weit („[p]or violación de los derechos y libertades referidos en el artículo 53, 2, de esta Constitución […]“[162]), verweist indes im Unterschied zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) GG auf die Möglichkeit einer einschränkenden Regelung durch das LOTC („[e]n los casos y formas que la ley establezca“[163]). Von dieser Möglichkeit macht das LOTC aber gerade keinen Gebrauch, sondern nimmt ausdrücklich in Art. 41 Abs. 2 LOTC die vorstehend beschriebene weite Bestimmung des Angriffsgegenstandes auf:
El recurso de amparo constitucional protege, en los términos que esta ley establece, frente a las violaciones de los derechos y libertades a que se refiere el apartado anterior, originadas por las disposiciones, actos jurídicos, omisiones o simple vía de hecho de los poderes públicos del Estado, las Comunidades Autónomas y demás entes públicos de carácter territorial, corporativo o institucional, así como de sus funcionarios o agentes.“[164]
Ähnlich weite Definitionen des Angriffsgegenstandes werden in § 72 Abs. 1 lit. a) des tschechischen und § 49 des slowakischen Verfassungsgerichtsgesetzes zugrunde gelegt.
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Der alternative Ansatz schränkt hingegen den Angriffsgegenstand der Individualbeschwerde auf Rechtsakte ein. So kann nach Art. 24 Abs. 2 lit. c), d) des ungarischen Grundgesetzes im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde sowohl die Verfassungsmäßigkeit der Anwendung einer Rechtsnorm im konkreten Fall als auch die Vereinbarkeit gerichtlicher Entscheidungen mit der Verfassung überprüft werden. An die Rechtsform des angegriffenen Aktes gebunden ist die Individualbeschwerde auch im österreichischen Verfassungsrecht. Neben der 1975 eingeführten Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze ist seit 2012 auch die Möglichkeit der Beschwerde gegen Erkenntnisse (Urteile) und Beschlüsse der Verwaltungsgerichte im Bundesverfassungsrecht verankert (Art. 144-Abs. 1 B-VG).
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In anderen Ländern ist die Beschwerdemöglichkeit hingegen auf die Rechtssatzverfassungsbeschwerde beschränkt. Dies gilt etwa für Polen, wo die Verfassungsbeschwerde auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen gerichtet sein muss (Art. 79 Abs. 1, 2 polnische Verfassung). Elemente der Rechtssatzbeschwerde enthält auch die Nichtigkeitsklage (abstrakte Normenkontrolle) vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof, da hier auch natürliche und juristische Personen unmittelbar vor dem Verfassungsgerichtshof auf die Nichtigkeit einer der in Art. 141 genannten Normen – die föderalen Gesetze, die von der französischen und flämischen Gemeinschaft beschlossenen Regelungen mit Gesetzeskraft (Dekrete) und die von den Regionen erlassenen rechtlichen Bestimmungen – klagen können, sofern sie ein ausreichendes Interesse nachweisen.[165]
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Auf der anderen Seite hat in der Türkei die Beschränkung der Individualbeschwerdemöglichkeit auf Einzelakte der Behörden und Gerichte das bereits erwähnte Ziel, die Zahl der Verurteilungen vor dem EGMR zu reduzieren, indem ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verteidigung der EMRK-Rechte im innerstaatlichen Recht zur Verfügung gestellt wird.[166] Da der Straßburger Gerichtshof sich in der Praxis