Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz
oder Ordnung eintreten wird. Kurz: hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts.
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Gefahrenabwehr dient der Abwendung eines Schadens. Ein solcher ist eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung eines polizeilichen Schutzgutes. Darin unterscheidet er sich von bloßen Belästigungen, Geschmacklosigkeiten oder Unbequemlichkeiten, die noch keine Gefahr darstellen. Die Abgrenzung ist nicht immer einfach, zumal sich aus Belästigungen – je nach Ort, Zeit und Intensität – ein Schaden entwickeln kann.
Beispiele: Damenboxkämpfe, Damenringkämpfe oder Damenschlammkämpfe „Oben-Ohne“ sind grundsätzlich eine Geschmacklosigkeit (VG Karlsruhe, GewArch 1978, 163; a. A. BayVGH, NVwZ 1984, 254). Das vereinzelte Bellen eines Hundes ist regelmäßig keine Belästigung, anders dann, wenn dieses ständig und evtl. auch nachts erfolgt. Zur Lärmbelästigung durch Kuhglocken vgl. VGH BW 1996, 232.
Ob eine Beeinträchtigung nicht unerheblich ist, beurteilt sich aus der Sicht des sogenannten Durchschnittsbürgers.
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Für den Schadenseintritt muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen. Diese liegt zwischen der bloßen Möglichkeit und der Gewissheit des Eintritts des Schadens. Wo genau im Einzelfall, ist abhängig von der Wertigkeit der zu schützenden und der Rechtsgüter, in die durch die polizeiliche Maßnahme eingegriffen wird (VGH BW, Urt. v. 28.7.2009 – 1 S 2200/2008, VGH BW, VBlBW 1982, 338, 339; 1983, 110, 112; 1989, 108, 109; NVwZ 1990, 781, 782).
Beispiele: Werden besonders hochwertige Rechtsgüter, wie das Leben oder das Grundwasser gefährdet, genügt zur Bejahung einer Gefahr in der Regel bereits die Möglichkeit des Schadenseintritts (VGH BW VBlBW 1996, 221, 222; NVwZ-RR 1996, 387, 388; vgl. aber auch VGH BW, NVwZ-RR 2002, 16). Andererseits sind z. B. bei einer Gewahrsamnahme einer Person grundsätzlich höhere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu stellen.
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Ob der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist, ergibt sich aufgrund einer Prognose. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Prognose ist auf den Kenntnisstand der Polizei (subjektiver Gefahrenbegriff) im Zeitpunkt ihres Einschreitens (sogenannte Ex-ante-Betrachtung) abzustellen. Durfte die Polizei hiernach aufgrund verständiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles davon ausgehen, ein Schaden werde eintreten, wird ihr Handeln nicht deswegen rechtswidrig, wenn sich später – z. B. aufgrund eines neueren Erkenntnisstandes – herausstellt, dass objektiv eine Gefahr überhaupt nicht bestanden hat. Diese so bezeichnete Anscheinsgefahr ist also eine ganz „normale“ Gefahr (OLG Karlsruhe, VBlBW 2000, 329).
Beispiel: Es wird festgestellt, dass der gesamte Kälberbestand im Zuchtbetrieb des Bauern H hormonbelastet ist. Daraufhin werden Kälber aus diesem Betrieb auf einem Viehtransporter vor der französischen Grenze beschlagnahmt. Eine spätere Untersuchung ergibt, dass die Kälber nicht belastet sind. Die Beschlagnahme war dennoch rechtmäßig. Die Prognose ist aufgrund von Tatsachen, allgemeiner Lebenserfahrung, polizeilichem Erfahrungswissen und aufgrund wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse zu treffen. Ein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum steht der Polizei hierbei nicht zu.
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Für die Praxis bedeutsam ist die Frage, ob bereits die Zugehörigkeit zu einem Personenkreis oder einer „Szene“ eine von der Person ausgehende Gefahr belegt. Für Personen, die der Trinker- oder Punkerszene angehören, wird man das nicht ohne Weiteres annehmen können, weil von diesem Personenkreis nicht zwangsläufig, ohne Hinzutreten weiterer Umstände, Gefahren ausgehen (vgl. VGH BW, NVwZ 2003, 115, 116). Hier muss also konkret ermittelt werden, ob im Einzelfall Handlungen die Gefahrenschwelle überschreiten. Demgegenüber hat die Rechtsprechung die erwiesene Zugehörigkeit zur Hooligan-Szene als Gefahr für die öffentliche Sicherheit angesehen, selbst wenn der Betroffene bisher nicht einschlägig vorbestraft ist (BayVGH, BayVBl. 2006, 671; enger VG Stuttgart, VBlBW 2007, 67, 68 f.). Nach OVG NW (DÖV 2001, 216) ist die offene Drogenszene als kollektives Geschehen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Demnach stelle die Angehörigkeit zu dieser Szene, sei es als Drogenhändler, Drogenkonsument oder als Person, die auf sonstige Weise zur Verfestigung der Drogenszene beiträgt, eine Gefahr für dieses Schutzgut dar (vgl. auch VGH BW, VBlBW 1997, 66 ff.; OVG Bremen, NVwZ 1999, 314, 317; OVG Lüneburg, NVwZ 2000, 454; BayVGH, NVwZ 2001, 1291, 1292). Wer sich wesentliche Elemente der Reichsbürgerbewegung zu eigen macht, gilt im Hinblick darauf, dass beim Umgang mit Waffen und Munition die Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu wahren sind, wegen der Leugnung der Existenz der Bundesrepublik und ihrer Rechtsordnung als waffenrechtlich unzuverlässig; auf konkrete waffenrechtliche Verstöße kommt es dabei nicht an (OVG Lüneburg, NJW 2017, 3256; Roth, NVwZ 2018, 1772).
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Nach verbreiteter Auffassung (vgl. VGH BW, VBlBW 1990, 469, 471; 1993, 298, 300; 1995, 64, 6) soll bereits das Vorliegen eines Gefahrenverdachts polizeiliche Eingriffsmaßnahmen erlauben. Anders als bei der Anscheinsgefahr, bei der sich die Polizei im Zeitpunkt des Einschreitens sicher ist, dass ein Schaden eintreten wird, ist sich die Polizei hier unsicher über den weiteren Geschehensablauf. In dieser Situation sollen sogenannte Gefahrerforschungseingriffe zulässig sein, um festzustellen, ob wirklich eine Gefahr besteht. Der Begriff „Gefahrenverdacht“ ist jedoch „mit Vorsicht zu genießen“. Oft handelt es sich um Situationen, in denen tatsächlich eine Gefahr vorliegt, bei der jedoch, in Anbetracht der Wertigkeit der zu schützenden Güter, geringere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden können. Gefahrerforschungseingriffe ohne das Vorliegen einer konkreten Gefahr sind auch dann zulässig, wenn das Gesetz an andere Zulässigkeitskriterien anknüpft, wie z. B. die §§ 43 Abs. 1, 27 Abs. 1 Nr. 2–7, 28. Außerhalb dieser Fälle erlaubt der bloße Gefahrenverdacht keine Eingriffe, es sei denn, ein spezielles Gesetz hält einen solchen für ausreichend (z. B. §§ 39 Abs. 2, 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 LFGB, § 9 Abs. 2 BBodSchG).
Das Bundesverwaltungsgericht (NVwZ 2003, 95, 96) hat der Zulässigkeit von Eingriffen bei Vorliegen eines bloßen Gefahrenverdachts eine klare Absage erteilt und festgestellt, es sei „Sache des zuständigen Gesetzgebers, sachbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegengewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen sind“. Damit wird auch jenen entgegengetreten, die Gefahrerforschungseingriffe auf manchmal recht eigenwillige Weise zu begründen versuchen, so etwa, weil die Generalermächtigung einen Gefahrerforschungseingriff stillschweigend mit enthalte, weil § 24 LVwVfG eine Pflicht zur Duldung von Eingriffen begründe oder weil Störer bereits derjenige sei, der einen subjektiv behördlichen Verdacht erzeuge.
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Von einer Schein- oder Putativgefahr spricht man, wenn in vorwerfbarer Weise von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen oder nicht nachvollziehbar prognostiziert wird. Sie ist keine Gefahr; in derartigen Situationen getroffene Maßnahmen sind rechtswidrig.
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Nach „herkömmlichem Verständnis“ (vgl. VGH BW, NJW 1987, 3022; BVerwG, NJW 1990, 2765 und 2768) umfasst die Gefahrenabwehr auch die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten und die Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr. Zumindest wird die Polizei in einigen Befugnisnormen ermächtigt, zu diesen Zwecken zu handeln (z. B. §§ 41 Abs. 1 Nr. 2, 43 Abs. 3, 49 Abs. 1 Nr. 2 u. 3, 50 Abs. 1, 56 Abs. 1). Eine nähere Erläuterung dieser Begriffe erfolgt dort.
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Der Schadenseintritt muss in absehbarer Zeit hinreichend wahrscheinlich sein. Eine unmittelbar bevorstehende Gefahr ist also im Normalfall nicht notwendig, die weit entfernte Möglichkeit