Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz

Polizeigesetz  für Baden-Württemberg - Reiner Belz


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heute gängige Auslegung des Begriffs „öffentliche Sicherheit“ geht auf die amtliche Begründung zu § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes zurück. Schutz der öffentlichen Sicherheit bedeutet danach Schutz der durch die Rechtsordnung geschützten Güter, wie z. B. den:

      – Schutz des Bestandes des Staates, der Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen und Schutz kollektiver Rechtsgüter,

      – Schutz von Individualgütern,

      – Schutz der Güter, die durch Normen des Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrechts geschützt sind.

      Beim Einschreiten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit kann es immer nur darum gehen, eine drohende Verletzung von Rechtsnormen abzuwehren. Rechtmäßige Handlungen und Zustände können also die öffentliche Sicherheit nicht tangieren. Gegen den, der von seinen Grundrechten, gesetzlich eingeräumten Befugnissen oder von einer behördlichen Erlaubnis Gebrauch macht, darf die Polizei nicht einschreiten. Die Verletzung von nicht durch die Rechtsordnung erfassten Gütern kann allenfalls für das Tatbestandsmerkmal „öffentliche Ordnung“ bedeutsam sein.

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      Die herkömmliche Auslegung des Begriffs „öffentliche Sicherheit“ umfasst auch die in § 1 Abs. 1 Satz 2 besonders genannten Schutzgüter „verfassungsmäßige Ordnung“ und „ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte“, sodass ihre Erwähnung eigentlich überflüssig ist. Ebenso wenig kann daraus eine Rangfolge der Schutzgüter als Maßstab für polizeiliches Handeln abgelesen werden, denn welches Schutzgut im Kollisionsfall „vor Ort“ Vorrang genießt, kann nicht abstrakt festgelegt werden.

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      Ein Blick auf die einzelnen Schutzgüter zeigt, dass die Schutzrichtung sowohl individual- als auch gemeinschaftsbezogen ist. Diesen Aspekt spricht § 1 Abs. 1 Satz 1 noch einmal ausdrücklich an: „… von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren …“. Um zusätzlich zu prüfende Tatbestandsmerkmale handelt es sich hierbei nicht.

       aa) Schutz des Bestandes des Staates

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      Schutz des Bestandes des Staates bedeutet Schutz vor Angriffen gegen die „Grundfesten“ unseres Staates und damit Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz ihre Verankerung gefunden hat. Nichts anderes meint der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ in § 1 Abs. 1 Satz 2. Diese Grundordnung ist umfassend durch die Bestimmungen des Staatsschutzstrafrechts, §§ 80 a ff., 105 ff., 109 ff., 111 ff. StGB geschützt. Eine präventive polizeiliche Tätigkeit in diesem Bereich ist also in der Regel eine solche zur vorbeugenden Verhütung dieser Straftaten (s. u. RN 24).

      Beispiel: Auf einem Flohmarkt werden T-Shirts, die mit dem Konterfei Adolf Hitlers versehen sind, nach § 38 Abs. 1 Nr. 1 beschlagnahmt. Über das Internet wird rassistische Propaganda verbreitet – es ergeht eine Löschungsverfügung. Beides sind Maßnahmen zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung wie auch zur Verhütung der weiteren Begehung einer Straftat nach § 86 a StGB bzw. § 130 StGB.

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      Auch wenn zum Schutz des Bestandes des Staates präventive Maßnahmen aufgrund der Normen des Polizeigesetzes möglich sind, wird die Polizei hier in erster Linie strafverfolgend tätig (s. u. RN 27 und 53 ff.).

      Beispiel: Im vorhergehenden ersten Beispiel wird die Polizei nach § 163 StPO ihre Ermittlungen aufnehmen und die T-Shirts nach § 94 StPO beschlagnahmen.

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      Zum „Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder“ ist auch der Verfassungsschutz berufen (§ 1 LVSG). Dieser, d. h. das Landesamt für Verfassungsschutz, gehört jedoch nicht zur Polizei (§ 2 Abs. 3 LVSG), ferner stehen ihm keine polizeilichen Befugnisse zu (§ 5 Abs. 3 LVSG).

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      Schutz der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen bedeutet hier Schutz vor Gefahren, die von außen an diese Einrichtungen herangetragen werden.

      Beispiele: Behinderung des Zugangs von Parlamenten, Universitäten, Blockaden von Bussen und Bahnen, Sperrung eines öffentlichen Weges (VGH BW, VBlBW 2005, 478).

      Polizeiliches Handeln in diesem Bereich setzt immer ein normwidriges, nicht unbedingt strafbares oder ordnungswidriges Verhalten voraus (str.), wenngleich viele gegen die Funktionsfähigkeit gerichteten Handlungen zugleich einen Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllen (z. B. §§ 105 ff., 109 ff., 113 ff., § 240 StGB). Die z. T. vertretene Auffassung, staatliche Einrichtungen seien auch dort geschützt, wo Normverstöße nicht in Betracht kommen, verschafft der Polizei Befugnisse, die eigentlich dem Gesetzgeber zustehen. Darüber hinaus wird die klare Grenze zwischen dem Begriff „öffentliche Sicherheit“ und dem Begriff „öffentliche Ordnung“ verwässert (s. u. RN 31).

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      Gegenstand des Schutzes sind Einrichtungen des Staates und sonstiger Hoheitsträger, wie z. B. Parlaments- und Regierungsgebäude, Gerichte, Verwaltungsbehörden, Universitäten, Schulen, Museen, öffentliche Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, gemeindliche Asylbewerber- oder Obdachlosenwohnheime. Auch Einrichtungen fremder Staaten (z. B. Konsulate, Botschaften) und solche der Stationierungsstreitkräfte wird man dazu zählen müssen. Die Verpflichtung zum Schutz Ersterer ergibt sich aus Art. 22 und 29 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Vertretungen (WÜD) bzw. aus Art. 31 Abs. 3 und 40 des Wiener Abkommens über konsularische Beziehungen (WÜK), vgl. auch §§ 102 ff. StGB.

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      Geschützt ist nicht nur der räumlich-gegenständliche Bereich, sondern auch das – nicht unbedingt hoheitliche – Handeln der Hoheitsträger, wie z. B. die Durchführung eines Staatsbesuches oder einer Gedenkfeier. Eine polizeirechtlich relevante Beeinträchtigung wird jedoch i. d. R. die Qualität einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit aufweisen müssen, denn die Äußerung von Unmut und Kritik über den Staat und seine Organe bewegt sich ohne Weiteres im Rahmen der Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit), Art. 5 Abs. 3 (Kunstfreiheit) und Art. 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit).

      Beispiel: Das Aussprechen einer Platzverweisung oder gar eine Ingewahrsamnahme von Personen, die anlässlich eines „Gipfeltreffens“ ihren Unmut über die Veranstaltung und deren Teilnehmer äußern, ist unzulässig, wenn hierdurch nur das „harmonische äußere Erscheinungsbild“ beeinträchtigt oder die obligatorische Blasmusik übertönt wird.

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      Auch die Behinderung polizeilicher oder sonstiger verwaltungsbehördlicher Tätigkeit kann die öffentliche Sicherheit tangieren. So rechtfertigt


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