Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz
a) Übertragung durch Gesetz oder Rechtsverordnung
b) Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten
1. § 1 Abs. 1 als Aufgabenzuweisungsnorm
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Nach § 1 Abs. 1 hat die Polizei die Aufgabe, (allgemeine) Gefahren abzuwehren. Es handelt sich um eine sogenannte Aufgabenzuweisungsnorm. Diese bestimmt den polizeilichen Handlungsraum in doppelter Hinsicht: positiv umschreibt sie das zulässige Betätigungsfeld (Gefahrenabwehr), negativ begrenzt sie es, indem sie der Polizei – vorbehaltlich gesetzlich geregelter Ausnahmen – ein Tätigwerden zu anderen Zwecken, gleich in welcher Handlungsform, verbietet. Insofern kommt der Auslegung des Begriffs „Gefahrenabwehr“ besondere Bedeutung zu: Je weiter man diesen Begriff fasst, umso größer wird der polizeiliche Handlungsraum. In diesen Kontext gehört die Diskussion um die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ und die „Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr“ (s. u. RN 46).
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Die Aufgabenzuweisungsnorm des § 1 Abs. 1 ermächtigt nicht ohne Weiteres zu konkreten Maßnahmen zur Erfüllung dieser Aufgabe. Ist mit der Maßnahme ein Eingriff in die Rechte des Bürgers verbunden, bedarf es – aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes und des Bestimmtheitsgebotes aus dem Rechtsstaatsprinzip – zusätzlich einer Befugnisnorm, die Inhalt, Zweck und Ausmaß des Eingriffs festlegt. Das Polizeigesetz verfügt mit § 3 über eine allgemeine und z. B. mit §§ 17, 18, §§ 27–41, §§ 42–61 und §§ 63–68 über spezielle Befugnisnormen. Für nichteingreifende Maßnahmen (z. B. Streifenfahrt, Beseitigung eines Hindernisses auf der Straße, Rettung eines Tieres in Not, Beratungstätigkeiten) bedarf es einer Befugnisnorm nicht. Hier wird allgemein die Aufgabenzuweisung als ausreichende Legitimation angesehen (VGH BW, NVwZ 1989, 279, 280).
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Die Aufgabe der Gefahrenabwehr obliegt „der Polizei“, das heißt Polizeibehörden und Polizeivollzugsdienst in gleicher Weise (vgl. §§ 104 ff.). Aus dieser gemeinsamen Aufgabenzuständigkeit kann aber nicht auf eine gemeinsame Ermächtigung geschlossen werden. Letztere ist vielmehr den jeweiligen Befugnisnormen selbst zu entnehmen. Diese ermächtigen zum Teil ausschließlich die (allgemeinen) Polizeibehörden (z. B. §§ 17, 39), zum Teil ausschließlich den Polizeivollzugsdienst (z. B. §§ 41, 43 Abs. 3, 44, 45, 47–56, 65–69) und häufig beide (z. B. §§ 3, 43 Abs. 1, 2 und 4, 27–30, 33–38, 59 Abs. 1, 63), wobei in diesen Fällen die Zuständigkeitsabgrenzung nach § 105 vorzunehmen ist.
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Der Begriff „Polizei“ ist inhaltlich mehrdimensional: Als Polizei im institutionellen (organisatorischen) Sinne sieht man die Stellen an, die zur Institution (Organisation) der Polizei gehören. Das sind in BW gem. §§ 104 ff. die Polizeibehörden und der Polizeivollzugsdienst mit seinen Beamten. Beide sind gemeint, immer wenn das Polizeigesetz die Polizei anspricht. Auf andere Bundesländer lassen sich die vorstehenden Ausführungen nicht ohne Weiteres übertragen, weil das dortige Recht zum Teil andere Organisationsmodelle kennt.
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Polizei im formellen Sinne bezeichnet die Summe aller Tätigkeiten, die in den Aufgabenkreis der Polizei fallen. Neben der Gefahrenabwehr gehören dazu die anderen Zwecken dienenden Aufgaben, wie z. B. die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Einen Hinweis auf den formellen Polizeibegriff gibt § 1 Abs. 2.
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Unter Polizei im materiellen Sinne (hier geht es um den spezifischen Inhalt polizeilichen Handelns) versteht man die Tätigkeit, die auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gerichtet ist. Diese Aufgabe wird der Polizei allgemein durch § 1 Abs. 1 zugewiesen, d. h., Polizeibehörden und Polizeivollzugsdienst haben prinzipiell dieselbe Aufgabe. Wie sich aus § 2 Abs. 2 ergibt, können allerdings auch andere, nichtpolizeiliche Stellen mit der Aufgabe der Gefahrenabwehr betraut sein.
Zur Gefahrenabwehr durch andere, nichtpolizeiliche Stellen, vgl. die Erläuterungen zu § 2 Abs. 1.
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Ausgangspunkt für den Begriff „Polizeirecht“ ist der materielle Polizeibegriff: Polizeirecht ist das Recht der Gefahrenabwehr. Als allgemeines Polizeirecht bezeichnet man die Normen und Grundsätze, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung den alleinigen und unmittelbaren Gesetzeszweck bildet. Es hat in Baden- Württemberg seinen Niederschlag im Polizeigesetz gefunden. Das besondere Polizeirecht regelt dagegen Gefahrenabwehr in speziellen Lebensbereichen, wobei die entsprechenden Gesetze häufig auch andere Zwecke verfolgen. Zum besonderen Polizeirecht zählt man z. B. Abfallrecht, Aufenthaltsrecht, Bauordnungsrecht, Bodenschutzrecht, Gewerbe- und Gaststättenrecht, Immissionsschutzrecht, Katastrophenschutzrecht, Seuchenrecht, Straßenverkehrsrecht, Versammlungsrecht und das Wasserrecht. In der Praxis hat das besondere das allgemeine Polizeirecht in vielen Bereichen verdrängt. Letzterem kommt heute nur noch eine Reservefunktion zu.
3. Die Schutzgüter der Gefahrenabwehr
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Schutzgüter der Gefahrenabwehr sind – wie in fast allen anderen Bundesländern auch – die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“. Bei diesen Begriffen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die vor der Subsumtion einer Auslegung bedürfen. Ein Beurteilungsspielraum steht der Polizei hierbei nicht zu, d. h., Auslegung und Subsumtion unterliegen voll der gerichtlichen Kontrolle. Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung sind alternative Schutzgüter (§ 1 Abs. 1: „oder“). Zunächst ist das Merkmal „öffentliche Sicherheit“ zu prüfen. Wird dieses bejaht, erübrigt sich ein Eingehen auf das Merkmal „öffentliche Ordnung“. Nur wenn ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit nicht vorliegt, bleibt Raum zur Prüfung des Merkmals „öffentliche Ordnung“. Die häufig anzutreffende Praxis, Maßnahmen undifferenziert auf beide Merkmale zu stützen, ist nicht nur dogmatisch zweifelhaft, sie führt häufig auch zu falschen Ergebnissen.
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Trotz der außerordentlichen Weite des Inhalts der Begriffe „öffentliche Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ wird ihre Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot und damit mit dem Rechtsstaatsprinzip angenommen, weil sie seit langer Zeit durch Lehre und Rechtsprechung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert seien (BVerfGE 54, 143, 144; BVerwG, NVwZ 2002, 598; 2007, 1439, 1440) – eine Auffassung, die hinsichtlich des Begriffs „öffentliche Ordnung“ jedoch nicht uneingeschränkt geteilt wird (s. u. RN 32, 33).