Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz

Polizeigesetz  für Baden-Württemberg - Reiner Belz


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Arten von Gefahren

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      Regelmäßig werden durch gesetzliche Vorschrift besondere Anforderungen an die Gefahr gestellt, wie beispielsweise ein besonders naher Schadenseintritt (unmittelbar bevorstehend), eine Gefährdung besonders wichtiger Rechtsgüter (Leben und Gesundheit) oder bestimmte Situationen (Gefahr im Verzug). Besondere Gefahrenarten, die teilweise auch miteinander kombiniert werden, sind:

      – konkrete Gefahr (§§ 3, 43 Abs. 2, 27 Abs. 1 Nr. 1, 53 Abs. 1 Nr. 1, 26 Abs. 1, 33 Abs. 1 Nr. 2, 48 Abs. 1 Satz 1),

      – abstrakte Gefahr (§§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 1),

      – Gefahr im Verzug (§§ 2 Abs. 1, 53 Abs. 5, 112 Abs. 1, Abs. 2, 113 Abs. 2, 122 Abs. 3),

      – dringende Gefahr (§§ 54 Abs. 1 Nr, 1, 36 Abs. 1 Satz 1),

      – unmittelbar bevorstehende Störung oder gegenwärtige Gefahr (§§ 9 Abs. 1, 32 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4, 33 Abs. 1 Nr. 1, 67 Abs. 2 Satz 2, 68 Abs. 2),

      – gemeine Gefahr (§ 36 Abs. 1 Satz 2),

      – Gefahr für Leben und Gesundheit (§§ 28 Abs. 3 Nr. 1, 32 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4, 36 Abs. 1 Satz 2, 48 Abs. 1, 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Satz 2),

      – erhebliche Gefahr (§§ 54 Abs. 1 Nr. 1, 33 Abs. 1 Nr. 1, 61 Abs. 4 Nr. 3, 32 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4),

      – Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes (§§ 29 Abs. 2, 48 Abs. 1 Satz 1, 50 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1 Satz 2),

      – Gefahr für bedeutende fremde Sach- und Vermögenswerte (§ 28 Abs. 3 Nr. 1),

      – Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit (§ 68 Abs. 2).

      Die Inhalte der jeweiligen Gefahrbegriffe werden bei den sie verwendenden Vorschriften erläutert.

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      Keine besondere Gefahr ist die sogenannte latente Gefahr. Damit bezeichnet man eine Situation, die zurzeit ungefährlich ist, jedoch später aufgrund veränderter Bedingungen zu einem Schaden führen kann. Der Begriff „latente Gefahr“ ist überflüssig. Entscheidend ist, dass im Zeitpunkt des Einschreitens eine Gefahr vorliegt, ob diese bereits früher latent, d. h. schlummernd existierte, ist unmaßgeblich.

      Beispiel: Jemand betreibt eine Tischlerei. Nachdem in der Umgebung einige Gewerbebetriebe in Wohnungen umgewandelt wurden, fühlen sich deren Bewohner von dem Lärm der Tischlerei gestört. Ob hierdurch eine Gefahr gegeben ist, beurteilt sich aus heutiger Sicht. Darauf, ob diese früher möglicherweise latent bestanden hat, kommt es nicht an.

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      Überflüssig ist auch der Begriff „Dauergefahr“. Nach einem Teil der Rechtsprechung (KG, NVwZ 2002, 1537, 1540; OLG Düsseldorf, NVwZ 2002, 629; OVG Koblenz, NVwZ 2002, 1528; abl. OLG Frankfurt, NVwZ 2002, 626 – zur Zulässigkeit der Rasterfahndung nach terroristischen „Schläfern“) soll eine derartige Gefahr, die sich jederzeit verwirklichen könne, mit einer gegenwärtigen Gefahr gleichzusetzen sein. Damit wird aber die vom Gesetzgeber gewollte Differenzierung zwischen den Gefahrenarten unzulässigerweise eingeebnet. Für eine „Dauergefahr“ gelten vielmehr die gleichen Anforderungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und der zeitlichen Nähe des Schadeneintritts. Eine „allgemeine Bedrohungslage“ (wie seit dem 11.9.2001) genügt für die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr nicht (BVerfGE 115, 320, 364 ff.)

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      Von einer Störung spricht man, wenn an einem polizeilichen Schutzgut bereits ein Schaden entstanden ist. Da die Polizei nach dem Polizeigesetz nur zu präventivem Handeln befugt ist, können aber nur solche Störungen relevant sein, aus denen die Entstehung eines weiteren Schadens zu befürchten ist. Störungsbeseitigung ohne gleichzeitige Gefahrenabwehr dient anderen Zwecken, etwa der (repressiven) Strafverfolgung. Es ist sprachlich in sich widersprüchlich, wenn einige Befugnisnormen des Polizeigesetzes als Eingriffsvoraussetzung unter anderem das Vorliegen einer „unmittelbar bevorstehenden Störung“ verlangen (§§ 9 Abs. 1, 33 Abs. 1 Nr. 1, 38 Abs. 1 Nr. 1). Richtigerweise muss hier eine „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ geprüft werden. Eine Tautologie ist es schließlich, wenn ebenda von einer „bereits eingetretenen Störung“ gesprochen wird. Als engere Tatbestandsvoraussetzung, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, scheidet dieser Begriff ohnehin aus, weil er inhaltlich mit der „normalen“ Gefahr identisch ist. Letztlich ist also der Begriff Störung überflüssig und konsequenterweise verzichten nahezu alle neueren Polizeigesetze auf diesen Begriff.

      Das in § 1 Abs. 1 Satz 1 erwähnte „öffentliche Interesse“ an der Gefahrenabwehr ist kein gesondert zu prüfendes Tatbestandsmerkmal (missverständlich VGH BW, VBlBW 2008, 375, 377). Werden die von der „öffentlichen Sicherheit“ umfassten Schutzgüter betroffen, impliziert dieses grundsätzlich ohne Weiteres ein öffentliches Interesse am Einschreiten. Beim Schutz privater Rechte (§ 2 Abs. 2) hat der Gesetzgeber bereits von sich aus das fehlende öffentliche Interesse dokumentiert, indem er dort eine polizeiliche Zuständigkeit im Grundsatz verneint. In freier Willensbestimmung vorgenommene ausschließliche Selbstgefährdungen (z. B. Bungee-Jumping [vgl. VGH BW, VBlBW 1995, 24], Bergsteigen, Autorennen, Fallschirmspringen) sind nach Art. 2 Abs. 1 GG zulässig und können daher nicht einmal als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung angesehen werden, i. d. R. auch dann nicht, wenn sie andere zu gefährlichen Rettungsaktionen veranlassen, denn diese können dem sich selbst Gefährdenden nicht unmittelbar zugerechnet werden (a. A. VGH BW, VBlBW 1998, 25, 26 f.; VGH BW, VBlBW. 2013, 178). Ist jemand in seiner freien Willensbestimmung eingeschränkt (z. B. Kinder, Betrunkene) so darf bzw. muss die Polizei zum Schutz von Leben und Gesundheit handeln (vgl. z. B. § 33 Abs. 1 Nr. 2 b), ohne dass zusätzlich ein öffentliches Interesse zu prüfen wäre. Das Gleiche gilt – nach der in § 33 Abs. 1 Nr. 2 c zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers – für die Selbsttötung, ohne dass es hier darauf ankäme, ob dieser frei willensbestimmt ist oder nicht.

       a) Übertragung durch Gesetz oder Rechtsverordnung

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      Neben der Aufgabe der allgemeinen Gefahrenabwehr (Abs. 1) hat die Polizei die ihr durch andere bundes- oder landesrechtliche Rechtsvorschriften (Gesetz oder Rechtsverordnung) übertragenen Aufgaben wahrzunehmen (Abs. 2). Eine Übertragung durch Satzung oder Verwaltungsvorschrift ist nicht zulässig. Die Aufgabe kann eine solche zur (speziellen) Gefahrenabwehr sein, sie kann aber auch andere Inhalte aufweisen. In jedem Fall bestimmen sich die formellen und materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen polizeilicher Maßnahmen zunächst nach dem speziellen Gesetz. Zur Frage, ob darüber hinaus ein Rückgriff auf die Vorschriften des Polizeigesetzes geboten und zulässig ist, s. u. RN 54 und § 3, RN 4.


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