Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, eBook. Christian Wittmann
ihre Entscheidung an die Stelle der angefochtenen Entscheidung des Zulassungsgremiums zu setzen.[277] Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich vielmehr darauf, ob der Entscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die durch Auslegung der in der maßgeblichen Rechtsvorschrift verwendeten Begriffe zu ermittelnden Grenzen eingehalten sind und ob die Subsumptionserwägungen so hinreichend in der Entscheidungsbegründung verdeutlicht wurden, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist.[278]
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Beurteilungsspielräume bestehen vor allem bei der Prüfung und Feststellung von Bedarfssituationen, also komplexen Untersuchungen und darauf aufbauenden Feststellungen, die von einer Vielzahl von Faktoren abhängig sind, wie z.B. bei der Prüfung und Feststellung eines qualifikationsbezogenen oder lokalen Sonderbedarfs gemäß § 101 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB V i.V.m. §§ 36 und 37 Bedarfsplanungs-Richtlinie[279], bei bedarfsabhängigen Ermächtigungen, bspw. gemäß §§ 116 SGB V, 31a Ärzte-ZV[280], bei der Verlegung von Vertragsarztsitzen oder genehmigten Anstellungen gemäß § 24 Abs. 7 Ärzte-ZV[281], bei der Ermächtigung zum Betrieb einer Zweigpraxis gemäß § 24 Abs. 3 S. 7 Ärzte-ZV[282], bei Ausnahmegenehmigungen gemäß § 73 Abs. 1a S. 3 SGB V[283] sowie bei Entscheidungen gemäß § 103 Abs. 3a SGB V.[284]
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Begründet wird ein solches Letztentscheidrecht der Zulassungsgremien in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerwG zu den Wertungen von sachverständig oder pluralistisch zusammengesetzten Gremien[285] damit, dass es sich bei den Zulassungsgremien um sektorenspezifische gruppenplural gebildete Gremien handelt.[286]
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Das BVerfG hat durch Beschluss vom 31.5.2011 – 1 BvR 857/07[287] die Anforderungen an eine mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbare eingeschränkte gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen verschärft: Beurteilungsspielräume bedürfen hiernach entweder einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage oder müssen sich aus den einschlägigen Normierungen zumindest durch Auslegung als vom Gesetzgeber eingeräumt ermitteln lassen.[288] Ob vor diesem Hintergrund den Zulassungsgremien weiterhin Beurteilungsspielräume zuerkannt werden können, wird unterschiedlich gesehen. Zum Teil wird angenommen, an der Rechtsprechung des BSG könne nicht mehr festgehalten werden.[289] Zum Teil wird vertreten, die Einräumung eines Beurteilungsspielraums lasse sich durch Auslegung hinreichend deutlich ermitteln, insbesondere spreche die Anordnung einer Entscheidung des Zulassungsausschusses durch den Gesetzgeber in Ansehung der bereits bestehenden Rechtsprechung zum Bestehen eines Beurteilungsspielraums ohne anderweitige Regelung für die Annahme eines Beurteilungsspielraums.[290]
j) Änderungen der Sach- oder Rechtslage
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Nach den Grundsätzen des intertemporalen Sozialrechts sind vorbehaltlich entgegenstehender (Übergangs-)Regelungen bei den auf Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung oder auf vergleichbare Statusentscheidungen gerichteten Vornahmesachen[291] grundsätzlich alle Änderungen der Sachlage bis zur mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz sowie alle Rechtsänderungen, auch soweit sie in der Revisionsinstanz eintreten, zu berücksichtigen.[292] Damit sind im Regelfall sowohl vorteilhafte als auch nachteilige Sach- und Rechtsänderungen[293] zu berücksichtigen.[294] Dies gilt auch dann, wenn die Anfechtung durch einen der verfahrensbeteiligten Verwaltungsträger[295] erfolgt,[296] bspw. wenn der Beschluss über die Erteilung einer Sonderbedarfszulassung von der Kassenärztlichen Vereinigung angefochten wird.[297] Unter Umstanden besteht für den Antragsteller Vertrauensschutz gegen nachteilige Sach- und Rechtsänderungen.[298]
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Diese Grundsätze gelten nicht, wenn nicht die Statusentscheidung selbst, sondern allein hiervon zu trennende Abrechnungsobergrenzen[299] im Streit stehen.[300]
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In Ausnahmefällen, insbesondere in Drittanfechtungskonstellationen, ist auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen, falls sich die Sach- oder Rechtslage zu diesem Zeitpunkt für den begünstigten Dritten vorteilhafter darstellt.[301] Geht dem Vornahmebegehren – wie etwa im Falle des § 103 Abs. 4 S. 4 ff. SGB V – notwendigerweise eine Abwehrklage in Gestalt einer Drittanfechtung der Begünstigung des für die Praxisnachfolge ausgewählten Bewerbers voran, ist auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen, falls sich die Sach- oder Rechtslage zu diesem Zeitpunkt für den begünstigten Dritten vorteilhafter darstellt.[302]
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Im Urteil des BSG vom 29.11.2017 – B 6 KA 31/16 R –[303] wurde die Rechtsprechung des 6. Senats noch einmal präzisiert: In einem Verfahren auf Zulassung seien grundsätzlich alle Änderungen – vorteilhaft oder nachteilig – der tatsächlichen Verhältnisse bis zur mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz zu berücksichtigen.[304] Allerdings könne auch für die Beurteilung von tatsächlichen Verhältnissen aus Rechtsgründen auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen sein.[305] Änderungen des anzuwendenden Rechts gegenüber dem Zeitpunkt des Zulassungsantrags sind hingegen nur dann zu berücksichtigen, wenn sie sich zugunsten des Antragsstellers auswirken. Dies entspreche dem Grundsatz, dass bei einer durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufszulassung auf die jeweils für den Antragsteller günstigste Rechtslage abzustellen ist.[306] Dieser für bipolare Konstellationen entwickelte Grundsatz könne jedoch Modifikationen für den Fall einer Entscheidung über mehrere sich wechselseitig beeinflussende Grundrechtsverhältnisse erfordern (sogenannte multipolare Konfliktlagen), da die Rechtspositionen des begünstigen Dritten sowie ggf. weiterer vorhandener Bewerber mit bedacht werden müssten. Deshalb habe der Senat in Drittanfechtungskonstellationen angenommen, dass auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen sei, falls sich die Rechtslage zu diesem Zeitpunkt für den begünstigten Dritten vorteilhafter darstelle; Rechtsänderungen, die nach diesem Zeitpunkt zugunsten eines abgelehnten Mitbewerbers in Kraft treten, seien somit nicht zu berücksichtigen.[307]
2. Vorbereitung der Sitzung
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Zur effizienten Verfahrensgestaltung werden im Vorfeld der Sitzung vorbereitende Maßnahmen durchgeführt. Dazu gehört u.a. die Überprüfung der Antragsunterlagen[308] insbesondere auf ihre Vollständigkeit. Soweit die für die zu treffende Entscheidung erforderlichen Verträge[309] noch nicht vorliegen, werden diese angefordert. Ebenso werden die für die Entscheidung gemäß § 20 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV bedeutsamen Tatsachen ermittelt.[310] Beispielsweise werden zur Vorbereitung einer Entscheidung über eine Sonderbedarfszulassung gemäß §§ 36, 37 Bedarfsplanungs-Richtlinie oder eine Ermächtigung gemäß §§ 116 SGB V, 31a Ärzte-ZV die betroffenen Leistungserbringer im Planungsbereich nach ihrem Leistungsspektrum, ihren Aufnahmekapazitäten und – gegebenenfalls – Wartezeiten befragt und im Wege der Amtshilfe von der Kassenärztlichen Vereinigung die dazugehörigen Abrechnungsdaten (Anzahlstatistiken etc.) beigezogen.[311] Ebenso werden in solchen Verfahren auch die schriftlichen Stellungnahmen der am Verfahren beteiligten Kassenärztlichen Vereinigung sowie der Landesverbände der Krankenkassen und der Ersatzkassen eingeholt. Im Rahmen eines Verfahrens auf Ermächtigung zum Betrieb einer Zweigpraxis sind gemäß § 24 Abs. 3 S. 7 Hs. 2 Ärzte-ZV u.a. der Zulassungsausschuss und die Kassenärztliche Vereinigung, in dessen Bezirk der Antragsteller seinen Vertragsarztsitz hat, vor Beschlussfassung anzuhören. Auch solche Stellungnahmen sind zur Sitzungsvorbereitung einzuholen.
3. Ladung zur Sitzung
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Zur Sitzung des Zulassungsausschusses sind gemäß § 36 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV die Mitglieder, gemäß § 36 Abs. 2 Ärzte-ZV in den Fällen des § 140f Abs. 3 SGB V die Patientenvertreterinnen und -vertreter sowie – in den Fällen des § 96 Abs. 2a SGB V – die für die Sozialversicherung zuständige oberste Landesbehörde[312] und, sofern eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben oder anberaumt ist, gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 Ärzte-ZV die Verfahrensbeteiligten[313] einzuladen.