Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
Weise erschlichen[22] oder trotz Kenntnis der Unrichtigkeit unter Hinzutritt besonderer die Sittenwidrigkeit begründender Umstände ausgenutzt hat[23]. Dem ist der BGH im Prinzip, aber zunächst in keinem Einzelfall gefolgt[24]. Gegen diese Rechtsprechung sprach grundsätzlich, dass die Rechtskraft eines Urteils nur unter den strengsten Voraussetzungen der §§ 580 ff. und in der besonderen Form des Wiederaufnahmeverfahrens erschüttert werden sollte. Demgegenüber betonte der BGH[25] besonders prononciert, dass die Restitutionsklage gegenüber dem Anspruch aus § 826 BGB weder der ausschließliche noch auch nur der vorrangige Rechtsbehelf sei.
c) Rechtskräftiger Vollstreckungsbescheid und ungerechtfertigte Vollstreckung
5.21
Die mehr theoretische und seltene Ausnahme der Rechtskraftdurchbrechung über § 826 BGB ist bei der Gegenwehr gegen rechtskräftige Vollstreckungsbescheide über sittenwidrige Ratenkreditverträge zum Regelrechtsbehelf geworden[26]. Die besondere Fallgestaltung erklärt sich aus dem Zusammenspiel mehrerer Mängel des früher geltenden Rechts. Die Rückzahlung von Kreditraten mit hohem Zins und hohen Unkosten ließ den Schuldner u.U. lebenslänglich an der Pfändungsgrenze (s. Rn. 24.21) verharren („moderner Schuldturm“), weil nach der Regel des § 367 BGB der pfändungsfreie Betrag stets nur zur Tilgung von Zinsen und Kosten ausreichte, nicht aber zur Rückführung der Hauptforderung. Die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit solcher Ratenkreditverträge[27] musste ins Leere gehen, wenn der Schuldner das Mahnverfahren ohne Schlüssigkeitskontrolle (§§ 688 ff.) zum rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid gedeihen ließ (§ 700 Abs. 1), ohne sich durch Widerspruch oder Einspruch zu wehren. Für die Bewältigung dieses Problems gab es drei grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten: fehlende Rechtskraft des Vollstreckungsbescheids wegen fehlender vorausgehender richterlicher Schlüssigkeitsprüfung und damit die Möglichkeit unbeschränkter Vollstreckungsgegenklage gemäß § 767[28]; Rechtskraft geringerer Intensität mit erleichterter Restitution (§§ 580 ff.)[29]; volle Rechtskraft mit Durchbrechung nach § 826 BGB[30]. Der BGH ist der letzten Ansicht gefolgt und nimmt sittenwidrige Vollstreckung an, wenn eine sittenwidrige Ratenkreditforderung tituliert worden ist, der Gläubiger das Mahnverfahren wählte und dabei erkennen konnte, dass seine Forderung gerichtlicher Schlüssigkeitsprüfung nicht standhielte[31]. Diese Rechtskraftdurchbrechung unter erleichterten Voraussetzungen soll und wird wohl ein Sonderfall bleiben[32]. Der Gesetzgeber hat im Verbraucherkreditrecht die Tilgungsreihenfolge Kosten-Hauptschuld-Zinsen aufgestellt (§ 497 Abs. 3 BGB) und verlangt für Mahnbescheide Angaben, die eine Schlüssigkeitsprüfung in schematisierter Form gestatten (§§ 688 Abs. 2 Nr. 1, 690 Abs. 1 Nr. 3, 691 Nr. 1). Bei Falschangaben des Kreditgebers mag dann der Tatbestand des § 826 BGB gegen drohende Vollstreckungen noch eine Rolle spielen. Im Übrigen wird diese Fallgruppe der Rechtskraftdurchbrechung hoffentlich der Rechtsgeschichte angehören.
d) Ungerechtfertigte Fortführung der Vollstreckung
5.22
Von der Frage, ob gegen die Rechtskraft des Titels durch Schadensersatzansprüche angegangen werden kann, ist die andere Frage zu unterscheiden, ob das Fortbetreiben der Zwangsvollstreckung nach Zahlung schadensersatzpflichtig macht, falls der Schuldner sich nicht sofort gegen den Fortgang der Vollstreckung wehrt (§ 767). Die Rechtsprechung vertrat ursprünglich die Auffassung, die Einleitung von Rechtsdurchsetzungsverfahren sei kein rechtswidriger Eingriff in Schuldnerrechte – außer im Falle vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung[33]; Schadensersatzpflichten seien auf die Fälle der §§ 717, 945 beschränkt. In neueren Entscheidungen gibt der BGH der literarischen Kritik[34] im Falle ungerechtfertigter Weitervollstreckung etwas nach.
Im ersten Fall[35] ging es um das Fortbetreiben der Zwangsvollstreckung durch den Rechtsanwalt bis zum Haftbefehl und zur Eintragung in das Schuldnerverzeichnis trotz telefonisch mitgeteilter Zahlung. Hier bejaht der BGH die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Gläubigeranwalts, weil sich der Sorgfaltsverstoß auf besondere Tatsachen gründe. Allerdings lässt der BGH dann den Ersatz des Vermögensschadens an der fehlenden Anspruchsgrundlage scheitern (kein „betriebsbezogener“ Eingriff in den Gewerbebetrieb, § 823 Abs. 1 BGB; Wahrnehmung berechtigter Interessen, §§ 823 Abs. 2, 824 BGB) und erwägt nur den erregungsbedingten Gesundheitsschaden als ersatzfähig (§§ 823 Abs. 1, 249 ff., 253 BGB).
Im zweiten Fall[36] vergaß eine Angestellte des Gläubigers die Unterrichtung des Vollstreckungsgerichts, die sie auf Zahlung zugesagt hatte, sodass der Haftbefehl und die Eintragung ins Schuldnerverzeichnis Darlehensschäden verursachten. Hier bejahte der BGH positive Vertragsverletzung und sprach den Vermögensschaden zu. Obwohl diese Entscheidung im Ergebnis zu billigen ist, bleibt ein Schönheitsfehler: der BGH geht nicht von der materiellrechtlichen Rechtsbeziehung als Grundlage der positiven Vertragsverletzung (§ 280 BGB) aus, sondern vom Vollstreckungsverhältnis als „gesetzlicher Sonderbeziehung privatrechtlicher Art“. Weder das Prozessrechtsverhältnis noch das Vollstreckungsverhältnis sollte man aber zur Grundlage materiellrechtlicher Ersatzpflichten machen; das Verfahrensrecht restituiert mit prozessualen Mitteln, das materielle Recht mit Schadensersatz, eine Vermischung beider Systeme führt zu bedenklichen Unklarheiten[37].
4. Vorläufig vollstreckbares Urteil und ungerechtfertigte Vollstreckung
5.23
Liegt ein nur vorläufig vollstreckbarer Titel vor (ein Urteil, gegen das noch ein Rechtsmittel möglich ist), so betreibt der Gläubiger die Zwangsvollstreckung auf eigene Gefahr; er ist dem Schuldner zum Schadensersatz verpflichtet, wenn das vorläufig vollstreckbare Urteil aufgehoben wird, die Zwangsvollstreckung sich also nachträglich – im Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner – als ungerechtfertigt erweist (§ 717 Abs. 2, 3 u. Rn. 15.42).
5. Vertragswidrige Vollstreckung
5.24
Hat sich der Gläubiger dem Schuldner gegenüber zu einer Beschränkung der Zwangsvollstreckung vertraglich verpflichtet, so handelt er (nicht das Vollstreckungsorgan!) rechtswidrig, wenn er die Zwangsvollstreckung unbeschränkt betreibt (vgl. unten Rn. 10.1 ff.).
VI. Drittverhältnisse
5.25
Dritte sind zwar keine Beteiligten im eigentlichen Sinne (Rn. 5.4), sie können aber doch „Nebenfigur“ des Vollstreckungsgeschehens werden und dabei besondere vollstreckungsrechtliche oder materiellrechtliche Rechte und Pflichten haben (Drittverhältnisse). Man muss unterscheiden zwischen Dritten, in deren Rechtskreis störend eingegriffen wird, und Dritten, die in die Vollstreckung rechtmäßig einbezogen werden.
1. Gestörte Dritte
5.26
Gestörte Dritte haben typischerweise vollstreckungsrechtliche Rechtsbehelfe gegen den vollstreckenden Gläubiger. So kann etwa der Besitzer von Sachen des Vollstreckungsschuldners gegen ihre Pfändung mit der Erinnerung (§ 766) vorgehen, der Eigentümer einer Sache oder Inhaber eines Rechts kann sich des Vollstreckungszugriffs durch Drittwiderspruchsklage erwehren (§ 771). Solche Übergriffe können materiellrechtliche Schadensersatzfolgen auslösen (§§ 280 ff., 990, 989, 823 ff. BGB)[38]. Man sollte den vollstreckungsrechtlichen Rechtsbeziehungen aber keine Nebenpflichten entnehmen, wie sie für materiellrechtliche Sonderbeziehungen typisch sind, also z.B. Pflichten zu rechtzeitiger Freigabe, Prüfungs- und Informationspflichten etc., vielmehr insoweit immer Prozessrecht und materielles Recht säuberlich trennen (Rn.