Kreuz und Rose. Anna-Katharina Dehmelt
von Andeutungen, Prozessen, Wesenheiten entgegen, deren Fülle und Wirklichkeitsgehalt ich vielleicht ahne, doch kaum halten kann. Das ist ein Merkmal inspirativer Erfahrung. Ein Halten, Einprägen und Verbinden mit der Komplexität des Beschriebenen wird eigentlich nur möglich, indem ich Fragen stelle an den Text, selber setze, welche Aspekte der Komplexität ich verfolgen möchte. Ist es die Verdichtung von Wärme über Luft zu Wasser bis hin zum Festen? Ist es das Zunehmen von Differenzierung, das durch Spiegelung, Zurückbleiben und Absonderung immer facettenreicher wird, das reichste Vielfalt bei gleichzeitiger innerer Einheit ermöglicht? Ist es das Entstehen von Fortpflanzung, also der Trennung zwischen geistiger und physischer Entwicklung, die von Zustand zu Zustand immer stärker wird, oder die Entstehung der Sinne, die schließlich unser Gegenstandsbewusstsein ermöglichen, aber schon auf dem Saturn angelegt werden? Verfolge ich die sich wandelnde Funktion der Pralayas? Versuche ich, aus einem Begriff, etwa dem der Spiegelung oder der Wärme, den ganzen Saturn zu entwickeln? Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, aber eine der vielen Möglichkeiten zu wählen, das scheint mir der Schlüssel für diese Stufe der Gedankenbildung zu sein. Denn nur meine eigene Frage verleiht mir Halt in einer geistigen Wirklichkeit, die doch in den Gedankenformen Steiners so gegenwärtig ist, dass sie mich erschlägt, wenn ich mich ihr gegenüber nicht aufrechterhalten kann – sofern sie nicht einfach an mir vorbeizieht, weil ich mich ihrer Kraft lieber gar nicht erst aussetzen möchte.
Gelingt es aber, in dieser Komplexität wach zu bleiben, so bemerkt man nicht nur, wie verschiedene Bereiche zusammenwachsen, sondern wie ich eintauche in eine in den Gedanken wirkende Wirklichkeit, die mir das Weltensein in ganz neuer Weise erschließt. Diese Erfahrung wird leicht verfehlt. Zu groß ist die Verführung, sich unter dem Alten Saturn etwas vorstellen zu wollen, was irgendwie meinem Erfahrungsschatz ähnlich wäre. Wenigstens möchte ich doch wissen, wie es auf dem Alten Saturn ausgesehen hat oder mit welcher geologischen Epoche Lemuris und Atlantis zusammenfallen. Aber dieses Bedürfnis nach alltäglicher Vorstellbarkeit bedient Rudolf Steiner in der Geheimwissenschaft nicht. Wie prall waren doch die Schilderungen in den Aufsätzen Aus der Akasha-Chronik, wo von den Flugzeugen der Atlantier, von anschaulichen Tier- oder Menschenformen die Rede war. Und mit dem klaren Aufbau von Bewusstsein, Leben und Form hatte man in den 7 x 7 x 7-Gliederungen doch immer eine deutliche Orientierung. In der Geheimwissenschaft wird die systematische Orientierung verwischt, wird nicht eine Schilderung zu solch praller Anschaulichkeit geführt. Immer ist die Schilderung so, dass ich selber sie verdichten und in Zusammenhänge rücken muss. Dann aber wachse ich mit dieser Schilderung hinein in die Wirklichkeit, von der die Rede ist, nicht im Sinne von Begriffen, die von einer äußeren Wirklichkeit abgezogen sind, sondern so, dass ich in den Gedankenbildungen die Wirklichkeit dessen erlebe, wovon die Rede ist. Im Studium des Weltentwicklungskapitels wachse ich tatsächlich mit der geistigen Welt zusammen. Ich erlebe die innere Einheit in aller Differenzierung, ich erfahre die Schöpfungskraft der Hierarchien und ihre unendliche Bereitschaft, alles zu tun, damit der Mensch ein freies Wesen werden kann und zugleich doch ein Glied der geistigen Welt zu bleiben vermag. Ich erlebe, dass die Welt der ausgebreitete Mensch ist und ich als Mensch in dieser Welt als ihr Mittelpunkt, als ihr Vegetationskegel stehe. Das wird Erfahrung. Aber es setzt diese innere Gedankenarbeit und die Setzung eigener Fragestellungen voraus. Sonst bleibt es dogmatisierbares Wissen.
Bild wird Kraft
Steiner beschreibt diese Wirksamkeit der Gedanken mit einem Bild am Ende des Kapitels ‹Schlaf und Tod› mit Bezug auf den inneren Umgang mit dem Reinkarnationsgedanken:
«Zwei Menschen – so wolle man annehmen – bekämen eine Siegellackstange in die Hand. Der eine stelle intellektuelle Betrachtungen an über die «innere Natur» der Stange. Diese Betrachtungen mögen sehr klug sein; wenn sich diese «innere Natur» durch nichts zeigt, mag ihm ruhig jemand erwidern: das sei Träumerei. Der andere aber reibt den Siegellack mit einem Tuchlappen, und er zeigt dann, daß die Stange kleine Körperchen anzieht. Es ist ein gewichtiger Unterschied zwischen den Gedanken, die durch des ersten Menschen Kopf gegangen sind und ihn zu den Betrachtungen angeregt haben, und denen des zweiten. Des ersten Gedanken haben keine tatsächliche Folge; diejenigen des zweiten aber haben eine Kraft, also etwas Tatsächliches, aus seiner Verborgenheit hervorgelockt. – So ist es nun auch mit den Gedanken eines Menschen, der sich vorstellt, er habe die Kraft, mit einem Ereignis zusammenzukommen, durch ein früheres Leben selbst in sich gepflanzt. Diese bloße Vorstellung regt in ihm eine wirkliche Kraft an, durch die er in einer ganz andern Art dem Ereignis begegnen kann, als wenn er diese Vorstellung nicht hegt. […] Wiederholt jemand solche innere Vorgänge, so werden sie fortgesetzt zu einem Mittel innerer Kraftzufuhr, und sie erweisen so ihre Richtigkeit durch ihre Fruchtbarkeit.»13
Es ist diese Verwandlung des zunächst bildhaften Gedankens in Kraft, die das Geheimnis der Geheimwissenschaft ausmacht. Solche Gedanken sind nicht in erster Linie dazu da, um sich etwas unter ihnen vorzustellen – wenn auch das immer wieder möglich und für den Anfang auch eine Hilfe sein kann –, sondern sie werden zu Kräften, die die Wirklichkeit konfigurieren in einer dem Sinn der Evolution entsprechenden Art und Weise. Die Pflanze wird mir etwas anderes, wenn ich immer wieder den Gedanken bewegt habe, dass Pflanze und Mensch sich seit der Alten Sonne gemeinsam entwickelt haben, dass es Beziehungen gibt zwischen Pflanze und Mensch, die auch heute noch durch Heil- oder Nahrungspflanze wirksam sind. Mein Verhältnis zu meinem Astralleib verändert sich, wenn ich immer wieder versucht habe, mit meinem Ich den Gedanken vom «Sündenfall», der mein Ich so stark in den Astralleib verstrickt hat, und dessen gesamtem Kontext zu denken. Der Impuls, einen Schulungsweg tatsächlich zu gehen, stärkt sich, wenn ich die Stellung des Menschen in der Evolution tatsächlich erfahren habe.
Und dies ist nun der nächste Schritt in der Gedankenentwicklung der Geheimwissenschaft: Im Schulungskapitel geht es darum, den Standpunkt, von dem aus eigene Tätigkeit möglich wird, genau zu justieren, und dann auch tätig zu werden. Das ist der Zipfel, an dem die ganze Weisheit der Geheimwissenschaft sich umstülpt, in meine Hände gelegt wird, von der Vorlage zur Aufgabe wird. Ich stehe in der Weltenmitternacht zwischen Tod und neuer Geburt, ausgegossen in die Intentionen der Welt, daran meine Aufgaben bildend. Ich stehe zugleich im Hier und Jetzt, mit dieser großen Perspektive meine kleinen Aufgaben ergreifend. Hier bin ich intuitiv gefordert. Das Schulungskapitel bietet mir mit der Rosenkreuz-Meditation ein Kraftbild, das mich bis zur Intuition führen kann, mit den Nebenübungen und dem Rückblick eine Handhabe, um im Hier und Jetzt vom Ich aus Herrscher im Astralleib zu werden, den «Sündenfall» ein Stück weit zu überwinden und Platz zu machen für das Mysterium von Golgatha. Denn darum geht es letztendlich.
Eine Kraftquelle
Rudolf Steiner hat immer wieder betont, dass man verstehen kann, wovon in der Geheimwissenschaft die Rede ist.14 Es war ihm wichtig, nicht Offenbarungen zu verkünden, sondern dem Ich das Material zu liefern, seine Aufgabe souverän zu ergreifen. Dringt man hier und da ein in die in der Gedankenbildung wirksame Kraftwelt und Wirklichkeit, so gewinnt man den höchsten Respekt vor Rudolf Steiners Leistung, diese geistige Wirklichkeit und Kraft bis in die Gedankenform hinein geprägt zu haben. In einer Weise, dass sie heute durch diese Gedanken hindurch immer noch aufgesucht werden kann! Diese Leistung, die geistige Wirklichkeit in die Gedankenform einzuprägen und durch sie hindurch in die geistige Wirklichkeit einzudringen, ermöglicht einen Zugang zu dem Christus-Ereignis der Gegenwart. Es beginnt mit der in der Welt ausgegossenen Weisheit, mit den in der Geheimwissenschaft entwickelten Bildegedanken. In sie arbeite ich mich denkend ein, verinnerliche sie. Und «geistige Erkenntnis wandelt sich durch das, was sie ist, in Liebe um».15 Der Gedanke wird Kraft. Weisheit wird Liebe. Nicht uns weiser zu machen ist die Geheimwissenschaft geschrieben, sondern uns dank der verinnerlichten Weisheit, aus dem Innesein im Sinn der Welt uns der Welt zuzuwenden, den Sinn der Welt in der Welt offenbar zu machen – das ist die Möglichkeit, die die Geheimwissenschaft bietet. Auch heute noch.
Ihre Zukunft wird vielleicht weniger im Vermitteln von Informationen über die geistige Welt liegen als in ihrer Potenz als Schulungsbuch. Als Schulungsbuch im Nachdenken, Mitdenken und Selberdenken der Gedanken vom Wesen des Menschen, von Schlaf, Tod und Wiedergeburt, von der Schöpfung, der gewordenen Welt und ihrer Zukunft, als Schulungsbuch aber auch im Umgang mit den Übungen des Schulungskapitels, die den Zipfel der Verinnerlichung, der Umstülpung,