Kreuz und Rose. Anna-Katharina Dehmelt

Kreuz und Rose - Anna-Katharina Dehmelt


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von der Welt abwendet, sondern um eine absteigende Spiritualität, die sich der Welt zuwendet:16 um eine radikale Diesseits-Spiritualität. Sie reflektiert, dass aus dem Menschen im Laufe der Evolution ein autonomes Wesen geworden ist. Denn «der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen»17 – bis dahin, dass er den Menschen hervorgebracht hat und in ihm zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommt. Den Sinn, den die Welt hat, erhält sie heute nur noch dadurch, dass wir ihn ihr geben und sie entsprechend gestalten. Auf dieser Diesseitigkeit beruht auch die Praxiswirksamkeit der Anthroposophie in Pädagogik, Medizin oder Landwirtschaft.

      Für diese Diesseits-Spiritualität braucht es eine denkende, fühlende und wollende Individualität. Denn nur das Individuum kann Sinn stiften. Ohne Sinn bleibt die Welt leer und das Leben in und mit ihr ziellos. Ohne Sinn verrät der Mensch sein innerstes sinnstiftendes Wesen. Diesseits-Spiritualität ist nur mit einer denkenden, sinnstiftenden Individualität zu haben.

      Einheitserfahrungen im Konkreten

      Wie sieht das nun konkret aus? Was geschieht durch eine solche Meditation wie die oben vorgestellte?

      Steiner hat verschiedene Stufen unterschieden, in denen sich die innere Erfahrung entfaltet. Anknüpfend an die Traditionen, die er in seiner Umgebung vorfand, hat er die in der Meditation zu machenden Erfahrungen zunächst als Hellsichtigkeit beschrieben; später hat er die Bewusstseinsform, die in der Lage ist, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, etwas philosophischer «schauendes Bewusstsein» genannt. Dabei verwandelt sich die Qualität der Verbindung von Ich und Welt, sie wird inniger und liebevoller, ja, sie kann sogar als heilend erlebt werden, sowohl im Hinblick auf den Inhalt der Meditation wie auch auf den Meditierenden selbst. Und mit diesem Eindringen in die tieferen Schichten der Wirklichkeit geht ein Zuwachs an Freiheit, an Ideen und an Initiative einher, woraus in innerer Stimmigkeit fruchtbares Tun erwachsen kann.

      Allgemeiner kann man vielleicht sagen, es entsteht so etwas wie ein Organ für Sinn, ein Sinn für Sinn im Konkreten. Eine Fähigkeit zu Einheitserfahrungen mit dem Leben, nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu. Der Spruch als Sinngebilde bildet in mir einen Sinn aus, das Wesen des Menschseins in seiner besonderen Ausprägung an diesem konkreten Menschen auch tatsächlich wahrzunehmen. Welche Geste hat das Haupt, das in seiner Abgeschlossenheit den Kosmos in seiner Kreisgestalt nachbildet? Welche Geste haben die Glieder, die ausgestreckt in ihrer Linienhaftigkeit potentiell ins Unendliche reichen? Wie werden diese beiden polaren Kräfte im Herzen miteinander verwoben? Und wie prägt sich die Dreiheit ganz konkret aus, in welchem Verhältnis stehen die drei Elemente zueinander? Es ist kein Nachdenken, sondern ein inneres Tasten im Umgang mit diesen Fragen, ein bewusstes Spüren und Erleben in und mit der inneren Tätigkeit.

      So wird Sinn nicht zu einer Jenseits-Kategorie oder zu etwas willkürlich zur Welt Hinzugefügtem, sondern zum aufgeschlossenen Tor, das mich im Hier und Jetzt erleben lässt, worum und wohin es geht. Sinn wird zur Brücke, über die Ich und Welt sich miteinander verbinden und – vielleicht am wichtigsten – aneinander verwandeln. Und hierin liegt auch die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie begründet. Erfahrungen, die man mit einem Spruch wie dem oben zitierten machen kann, gehören beispielsweise zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik.

      Es wäre interessant, die Haltung gegenüber anderen Menschen, die durch das Umgehen mit einem solchen Spruch entsteht, mit der achtsamen Haltung des Buddhisten zu vergleichen. Der Spruch soll ja nicht zu einem Konzept werden, mit dem ich mein Gegenüber belege. Auch der anthroposophisch Meditierende wird versuchen, sein Gegenüber so umfassend wie vorurteilslos wahrzunehmen. Er macht dabei aber die Erfahrung, dass die Wahrnehmung eines anderen Menschen sich vertieft und sinnvoll sich auszusprechen beginnt. Womöglich befähigt der Umgang mit einem solchen Spruch, die Erfahrungen mit anderen Menschen näher an das wahre Wesen des Menschen heranzurücken?

      Und das Ego?

      Und was geschieht derweil mit dem Ego? Wenn ich Steiner recht verstehe, ging es ihm auch gegenüber dem Ego weniger darum, es loszulassen, als es der Sphäre des von allen Identifikationen gereinigten Ich näherzubringen. Denn hinter jedem Schatten steht ein Licht, hinter jedem Egoismus eine selbstlose Fähigkeit. Im Ego drückt sich aus, wie sich der Tropfen aus dem Meer des Sinnes in dieser konkreten Person bisher manifestiert hat. Es bringt die eingegangenen Verbindungen und Identifikationen zum Ausdruck. Nur sind diese zunächst eben nicht bewusst, sondern wirken mit Eigendynamik und damit egoistisch.

      Die Öffnung des Schattens zum Licht hin hat aber die Auflösung der Identifikation des eigentlichen Ich mit dem Ego zur Voraussetzung. Steiner gibt dazu eine elementare Übung: man möge abends noch einmal auf den Tag zurückschauen, dabei aber die Ereignisse rückwärts durchgehen.18 Warum? Erinnere ich vorwärts, ist sofort die Dynamik des Erlebten wieder da, ein unbedachtes Wort macht wieder wütend, eine Verletzung schmerzt erneut. Das ist beim Rückwärts-Erinnern nicht der Fall. Ich nehme die Emotion zwar wahr, werde aber nicht wieder in sie hineingezogen.

      Das klingt sehr ähnlich wie die Prozesse, die Michael von Brück im Hinblick auf die Befreiung vom Leiden beschrieben hat. Für die Diesseits-Spiritualität der Anthroposophie ist es mit dem Loslassen und der Befreiung von den Anhaftungen noch nicht getan. Denn hier geht es ja gerade darum, sich mit der Welt ganz konkret zu verbinden, und das ist das genaue Gegenteil einer unwillkürlichen Anhaftung: Ich suche aktiv und frei eine neue Verbindung. Die Freiheit von den Anhaftungen soll zur Freiheit für eine Aufgabe werden.

      Aber der Übergang von der unwillkürlichen Anhaftung zur frei ergriffenen Aufgabe ist heikel. Allzu leicht leben sich doch immer wieder nur die alten Anhaftungen in den angeblich neu ergriffenen Aufgaben aus. Wir leben andauernd auf dem schmalen Spalt zwischen Anhaftung und frei ergriffener Aufgabe. In der Rückschau-Übung übt sich das Ich darin, sich von den alten Anhaftungen unabhängig zu machen, indem es sie rückwärts anschaut. Dadurch behält es sie im Blick und löst doch gleichzeitig die Identifikation. Es gibt sie frei, um sich in einem neuen, lichtvolleren Zusammenhang neu zu konstituieren.

      Gegenseitige Bereicherung

      Das anthroposophische Konzept von Meditation ist komplex, gerade durch seine Sinnorientierung. Je besser ich die östlichen Methoden der Meditation kennenlerne, desto mehr scheint es mir, dass sie für den anthroposophisch Meditierenden eine gute Voraussetzung, ja vielleicht sogar eine Bedingung für gelingendes Meditieren sind. Die buddhistische Achtsamkeit verkörpert das Stadium zwischen vorgegebenen Sinnkonzepten und neuem sinnstiftenden Zugreifen, dem sich dann die anthroposophische Meditation zuwendet. Es erscheint mir sinnvoll, sich auf dieser Schwelle zwischen der gewordenen Welt und der strömenden Sinnhaftigkeit der geistigen Welt halten zu können: alte Anhaftungen und Sinnkonzepte abstreifend, ohne gleich wieder eine neue Verbindung eingehen zu müssen. Denn greife ich zu schnell zum Sinn, etwa weil ich das Zwischenstadium nicht aushalte, ist damit nur wieder eine neue, verfeinerte Form des Egoismus gegeben. Sich halten zu können auf der Schwelle zwischen Anhaftung und neuer Sinnstiftung scheint mir eine gute Voraussetzung für sinnstiftende anthroposophische Meditation zu sein.

      1 Siehe Michael von Brück: Zen – Geschichte und Praxis, München 2007.

      2 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), Dornach 1989, S. 66.

      3 Dies wurde als kleine angeleitete Meditation auf das Wort «Ich bin» während des Vortrages auch durchgeführt.

      4 Diese Übung ist als «Erste Nebenübung» bekannt und im Anhang wiedergegeben.

      5 Die Übungen mit dem sogenannten «versatilen Dreieck» oder der «Rot-Grün-Vertauschung» sind ebenfalls im Anhang wiedergegeben.

      6 Vortrag vom 20. April 1923, S. 94 in Rudolf Steiner: Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (GA 84), Dornach 1986.

      7 Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), S. 70.

      8 Siehe dazu ausführlich das Kapitel ‹Alles in der Welt ist bewusst› in diesem Buch, S. 183ff.

      9 An diese halten wir uns hier, denn nur sie sind unabhängig von einer Lehrerpersönlichkeit, die Steiner ja auch war. Alle persönlich gegebenen Meditationen haben einen menschlichen Zusammenhang, der heute kaum noch zu rekonstruieren ist.

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