Kreuz und Rose. Anna-Katharina Dehmelt
des 20. Jahrhunderts
Erst, als ich 1989 für das Arbeitszentrum Frankfurt der Anthroposophischen Gesellschaft die Aufgabe übernahm, herauszufinden, was Rudolf Steiner alles über das Ende des 20. Jahrhunderts gesagt hatte, rückten für mich die Inhalte im Werk Rudolf Steiners in den Vordergrund. Auf der Suche, die mit dem Jahrhundertende verbundenen inhaltlichen Motive zu verfolgen und zu verstehen, musste ich sehr viel lesen, insbesondere Vorträge von Rudolf Steiner. Mit dem Mitdenken und Verdauen kam ich kaum nach. Vom Treffen auf den Seinsgrund, der all das Dämonische, all die geschichtlichen Verwerfungen und ihre karmischen Hintergründe, die Gegenbilder und die sich daraus ergebenden Aufgaben zusammengehalten und ihnen Sinn verliehen hätte, konnte keine Rede sein. Stattdessen machte ich die Erfahrung, dass das Immer-weiter- und Immer-mehr-Lesen durchaus Unterhaltungswert haben, spannend sein, fast einen Rausch auslösen konnte, wenn ich nur das Fragen und Verstehenwollen ausschaltete. Ich machte aber auch die Erfahrung, dass ich weiterlas in der Hoffnung, dass irgendwo die Antworten stünden, dass mir doch gesagt würde, was genau am Jahrhundertende geschehen werde und wie ich mich dagegen wappnen könne. Und ich machte, da ich ja nun doch so viel gelesen hatte, auch die Erfahrung, dass ich nun begann, mein eigenes Verhalten, meine Ansprüche, meine Ziele und mein Scheitern mit der Anthroposophie zu rechtfertigen. Manchmal meinte ich nun zu wissen, wie es sei und was zu geschehen hätte, und der Fanatismus und Dogmatismus, mit dem ich dies zu vertreten begann, gesellte sich als drittes Gegenbild zum Unterhaltungswert der Anthroposophie und zu der Hoffnung, sie würde mir eigene Einsicht und Verantwortung abnehmen und Trost und Erquickung spenden.
Unterhaltungs-Anthroposophie, Trost-Anthroposophie, Privatanthroposophie mit ihrem Fanatismus und Dogmatismus – in diesen dreien spürte ich, dass sie meine seelische Gesundheit ankratzten. Die Gegenbilder des Geistigen, deren Eigendynamik am Jahrhundertende Steiner so eindrücklich beschrieb, hatten mich von dieser Seite aus kräftig am Wickel.
«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Es war tatsächlich die Stimme Rudolf Steiners in dem so zentralen Vortrag zum Jahrhundertende über die Tätigkeit der Engel im Astralleib3, die mich hinaushebelte aus der Verstrickung in die Gegenbilder. So vieles wurde ausgebreitet in diesem Vortrag, so viel Bedrohliches, und so gewaltige, das Fassungsvermögen übersteigende Ansprüche gestellt – und dann: «Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Als riefe Steiner selbst mir das zu, und er dachte dabei sicherlich nicht an die gedächtnismäßige Aneignung der geisteswissenschaftlichen Begriffe und Ideen, sondern an die aktiv-denkerische Bildung innerer geistgemäßer Unterscheidungen und Zusammenhänge. Rudolf Steiner ermutigte mich, im Hinblick auf ein richtig bewusstes Verstehen seines Werkes den eigenen Fragen unverdrossen zu folgen und mit den gebildeten Begriffen wach und souverän zu leben im Sog der Gegenbilder, überhaupt in der Bewegung des Geistes, nicht nur am Jahrhundertende.
Das Zweite, worauf Rudolf Steiner mich aufmerksam machte, war die Übung am Ende dieses Vortrages, eine einfache Karmaübung: Achtet auf das, was wie durch ein Wunder in euer Leben tritt, was bei nur winzigsten Veränderungen nicht hätte stattfinden können, und auf das, was beinahe geschehen wäre, aber verhindert wurde durch winzigste Änderungen der Rahmenbedingungen. Achtet auf den verpassten Zug, den verhinderten Unfall, auf die überraschende Wiederbegegung, auf den kleinen Fingerzeig. Achtet auf das fortwährende Wunder, den Wandel in eurem Leben!
Und als Drittes wurde ich gefragt, was denn nun das Jahrhundertende eigentlich sei? Wirklich nur eine profane Zeitangabe? Sollte Steiner tatsächlich Zukunftsvorhersagen à la Nostradamus gemacht haben? War das Jahrhundertende nicht auch ein Symbol für krisenbelastete Schwellensituationen, wie die Zeitrechnung sie wohl am Jahrhundertende hervorbringt, die ihrem Wesen nach aber weit darüber hinausreichen?
Diese Hinweise Steiners auf die denkaktive Begriffsbildung, auf Übung und Schulung und auf die dadurch ermöglichte geistige Forschung eröffneten mir die Perspektive, mich aus der Klammer der Gegenbilder zu lösen. Das hatte etwas Befreiendes. Ich erlebte darin eine Umstülpung von der Inhaltsfülle der Anthroposophie mit all ihren Gefahren hin zu eigener innerer, auf Verwandlung und Entwicklung gerichteter Arbeit. Aus der inhalts- und vergangenheitsorientierten Erkenntnisseite der Anthroposophie entbindet sich Moral – aber keine vorgegebene, sondern eine aus dem Verbundensein mit dem Seinsgrund, dem Geistigen in mir und in der Welt entstehende selbstverantwortete, mich und die Welt verwandelnde Moralität. Es entbindet sich Zukunft, aber keine vorgegebene, sondern eine, die aus geistesgegenwärtigem Tun entsteht. Das Jahrhundertende ist ein Bild für diese Umwendung.4
In dieser Umwendung trifft Anthroposophie mich an der Schwelle zwischen Bindung und Freiheit, zwischen fertiger und werdender Welt, zwischen gewordenem und sich entwickelndem Mensch-Sein. Und damit ging für mich auch eine verstärkte Pflege von Meditation und anthroposophischer Schulung einher.
In Rudolf Steiners Werkstatt
Im neuen Jahrhundert dann trat für mich die Frage in den Vordergrund: Wie hat Rudolf Steiner das eigentlich gemacht? Wie hat er ein Werk geschaffen, das die durch Denken gehende Erfahrung eines einheitlichen Seinsgrundes in mir und in der Welt ermöglicht und dabei zugleich individuelle Freiheit, Moral und Zukunft entbindet, ein Werk, das durch ebendiese Eigenart, Erkenntnis in Moral, Gegebenes in Werdendes zu verwandeln, ganze Lebensfelder inspiriert hat?
Ich entdeckte, wie Rudolf Steiner grundlegende Begriffe und Inhalte der Anthroposophie, zum Beispiel die höheren Erkenntnisstufen der Imagination, Inspiration oder Intuition oder die Meditation des Rosenkreuzes, keineswegs offenbart, auch selber nicht offenbart erhalten hat, sondern über Jahre entwickelt, erforscht, ausprobiert, verändert – man kann das in den Vorträgen, die der schriftlichen Niederlegung vorangehen, nachverfolgen. Dabei stützt er sich oft auf Inhalte, die er der esoterischen oder kulturellen Tradition entnommen hat – auch wenn er nur selten die Quellen angibt.5 Aber dann arbeitet er daran, den Inhalten eine auf sich selbst beruhende Gestalt zu geben, eine innere Stimmigkeit, die es unmöglich macht, aus der sozialen Dreigliederung eine Viergliederung oder aus den sieben Wesensgliedern des Menschen sechs oder acht zu machen. Die von Steiner geprägten geisteswissenschaftlichen Begriffe tragen sich gegenseitig, und dadurch kann durch sie alles Einzelne in Zusammenhang gebracht werden mit der Ganzheit des Wesens des Denkens, mit dem Seinsgrund.
Mir wurde klar, wie Rudolf Steiner nicht einfach über irgendetwas spricht, sondern wie er das, worüber er spricht, zugleich tut. So gibt es zum Beispiel einen Vortrag aus dem Jahre 1924 über den Prozess der Einweihung, der, ausgehend von Mythos und Bild über deren Verstehen und das Einleben in die Vorgänge, von denen Mythos und Bild reden, schließlich in die Erfahrung der zugrundeliegenden geistigen Realität mündet.6 Aber Steiner spricht nicht nur davon, sondern er baut den ganzen Vortrag nach diesen Stufen auf, er vollzieht diese Stufen im Sprechen von diesen Stufen fortwährend. Er tut, wovon er spricht, Inhalt und Form, Erkenntnis und Moral werden eins. Vielleicht kann man die besten Vorträge Steiners als Performances der Geistesgegenwärtigkeit bezeichnen, im Augenblick entstehende Realisationen eines anwesenden Geistes.
Ich begann zu verstehen, wie Steiner seiner Aufgabe, ja, seiner Mission, Welt und Mensch ausgehend vom Denken transparent zu machen für ihren sie verwandelnden geistigen Grund und Zusammenhang, treu geblieben ist von den Grundlinien am Anfang bis zu den Anthroposophischen Leitsätzen am Ende seines Werkes. Aber er hat dieser seiner Mission so unterschiedliche Ausdrucksformen gegeben, dass man sie kaum einem einzelnen Menschengeist zuordnen kann: die philosophische Form bis zur Jahrhundertwende, gipfelstürmend, anarchistisch, persönlich; die theosophische Form bis 1912, inhaltsstrotzend, allwissend, manchmal widersprüchlich, immer allerwichtigst; und dann der Parallelgang: in den internen Vorträgen behält er, den Bedürfnissen seiner Zuhörer entsprechend, viel Theosophisches bei, während er in den öffentlichen Schriften die Inhaltsfülle abstreift und sie ganz auf das Mitdenken-Wollen zuspitzt. 1917 erfindet er mit der Dreigliederung die Anthroposophie noch einmal neu – ein weiterer Versuch, den theosophischen Sockel abzustoßen. Immer nüchterner werden in seinen geschriebenen Werken die Ausdrucksformen für das, worum es ihm von Anfang an zu tun war: wie das Geistige im Menschenwesen und das Geistige im Weltenall sich im Hier und Jetzt treffen können.
Treffpunkt Steiner
Rudolf