Kreuz und Rose. Anna-Katharina Dehmelt

Kreuz und Rose - Anna-Katharina Dehmelt


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Geistigkeit nicht leer, sondern – hier steht er wohl dem Hinduismus näher – innerlich sinnvoll, es besteht sozusagen ganz aus Sinn.

      Das Ich hat teil an diesem umfassenden Sinn, gehört ihm selbst an. In dieser Perspektive kann der Tropfen des Ich nun das Meer möglicher Sinnstiftungen, das Steiner «Geistige Welt» nennt, zu erforschen beginnen. Und hier fängt die anthroposophische Meditation eigentlich erst an. Sie richtet sich auf das Einleben des Tropfens in das Meer. Sie richtet sich darauf, die Vereinzelung des Egos zu überwinden und das befreite Ich in der Welt des Sinnes zu beheimaten.8

      Meditation

      So gründet anthroposophische Meditation auf dem denkenden Ich, das sich meditierend in die Welt des Sinnes einzuüben und einzuleben vermag. Anthroposophische Meditation hat immer diesen Sinnbezug. Es geht aber nicht darum, Sinn zu konzeptionalisieren und theoretisieren, sondern Sinn gleichsam von innen zu erfahren, als innerste Natur der Welt und des Ich.

      Es gibt gar nicht so viele Meditationen, die Steiner für die Öffentlichkeit bestimmt hat.9 Die wichtigsten, ausführlich und methodisch beschriebenen Anleitungen finden sich in der sogenannten Rosenkreuz-Meditation, in einer Meditation über die Prozesse des Sprießens und Welkens in der Natur oder in einer Meditation, die sich auch inhaltlich ganz in der Qualität des Denkens hält und die in der Formel «Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens» zusammengefasst wird.10 Im Grunde aber ist alles meditationsfähig, jeder Stein und jeder Baum, jede Frage und jedes Problem. Die Kunst ist, das Thema einer Meditation so in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken, dass Thema und meditierendes Ich konvergieren, zusammenfließen, in der Meditation ineinander übergehen. Auch hier also: das Gegenteil von Loslassen! Stattdessen aktives Ergreifen und bewusstes Versenken in einen Inhalt, um ihn von innen, seiner innersten Wesenheit nach, zu erfahren. Andernfalls steht man vor einem vielleicht interessanten Zusammenhang, der aber äußerlich bleibt, in den man nicht eindringen kann. Es geht aber gerade darum, sich ganz aus der inneren gereinigten Ich-Kraft heraus dem Meditationsinhalt quasi von innen zuzuwenden.

      Um die entsprechenden inneren Handgriffe zu erüben, sind die von Steiner methodisch angeleiteten Meditationen außerordentlich fruchtbar. Man durchläuft dabei einen Prozess von der zunächst vor allem denkenden Aktivierung des Inhaltes über ein immer mehr auch das Fühlen einbeziehendes Ein- und Zulassen – wobei das Fühlen einen ähnlichen Reinigungsprozess durchläuft wie zuvor das Denken – bis hin zu einem willentlichen, existentiellen Ineinander-Aufgehen, einer Einheitserfahrung, die sich in der Sinn-Erfahrung auftut. Steiner beschreibt diese Schritte als verschiedene Bewusstseinsstufen, die er Imagination, Inspiration und Intuition nennt. Durch diese Stufen hindurch tritt die innere Aktivität zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer offenen Empfänglichkeit.11

      In der Praxis haben für viele Anthroposophen solche Meditationen die größte Bedeutung, die nicht ein Symbol, einen Naturvorgang oder einen Gedanken zum Thema haben, sondern einen zumeist mehrzeiligen, sehr sorgfältig gestalteten und oft als Mantram bezeichneten Spruch.12 An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie ein solcher Spruch so gebaut sein kann, dass er nicht nur über etwas spricht, also einen Inhalt präsentiert, sondern ihn in seiner ganzen Gestalt vergegenwärtigt und tut, also vollzieht, wovon er spricht:

      «Ecce homo

      In dem Herzen webet Fühlen,

      In dem Haupte leuchtet Denken,

      In den Gliedern kraftet Wollen.

      Webendes Leuchten,

      Kraftendes Weben,

      Leuchtendes Kraften:

      Das ist – der Mensch.»13

      Der Spruch hat sieben Zeilen, von denen die ersten drei und die zweiten drei jeweils parallel gebaut sind. Die ersten drei Zeilen beginnen jeweils mit einer Ortsangabe, die sich auf die menschliche Gestalt bezieht: Herz, Haupt, Glieder. Es sind Substantive, die einerseits uns selbst meinen, die aber auch gegenständlich und in bestimmter Weise gestaltet vorgestellt werden können. Die Zeilen enden mit substantivierten Verben: Fühlen, Denken und Wollen, zu denen wir nun nur noch einen inneren Zugang haben, die uns aber doch bekannt und sogar vertraut sind. Auch der Bezug vom Fühlen zum Herz, vom Denken zum Kopf und vom Wollen zu den Gliedern ist nachvollziehbar. Das dritte Element der ersten drei Zeilen sind die Verben: weben, leuchten, kraften. Sie weisen auf die Aktivität, die hinter den Seelentätigkeiten steht, die ihrerseits in der menschlichen Gestalt manifest werden. Diese Aktivitäten sind uns normalerweise gerade wegen ihres Vollzugscharakters ganz unbewusst.

      Die zweiten drei Zeilen halten sich dann ganz in diesen Vollzügen und verweben jeweils zwei dieser Vollzüge miteinander: als Adjektiv und substantiviertes Verb. Und die letzte Zeile fasst dieses ganze Geschehen in einem einfachen Satz zusammen, der allerdings durch seine lateinische Form «Ecce homo» eine weitreichende Bedeutung bekommen hat: denn so hat Pontius Pilatus von Jesus Christus gesprochen.14

      Ein solcher Spruch wird vom Objekt des Nachdenkens zur Meditation, indem wir zunächst innerlich ergreifen, wovon er spricht. Hierbei ist immer noch das Denken beteiligt: nicht aber, um über den Inhalt nachzudenken, sondern um ihn wach im Bewusstsein zu halten und zugleich aufmerksam zu sein auf die Qualität der inneren Kraft, die sich dabei entwickelt. Das ist vielleicht die größte Klippe der anthroposophischen Meditation: den Übergang zu finden vom Nachdenken zum innerlich wach beobachtenden Mittvollzug. Können wir also in der Zeile «In dem Haupte leuchtet Denken» das runde Haupt in seiner abgeschlossenen Gestalt vor uns sehen und dabei die nur innerlich zu erfahrende Qualität des Denkens im Blick haben, die sich in der Form des Hauptes einen Ausdruck schafft, ihrer inneren Natur nach aber Licht ist? Und können wir dann weiter diesen Zusammenhang einlassen in unser Fühlen, nicht nur wissend und vollziehend, sondern spürend und erlebend? Können wir schließlich das Bewusstsein aufrechterhalten, wenn wir uns diesem Zusammenhang völlig ausliefern und ihn wie von innen nicht nur erfahren, sondern sind? Wenn zwischen uns und dem ursprünglich ganz äußerlichen Inhalt kein Unterschied mehr besteht?

      Das muss und kann geübt werden. Immer gesättigter wird dann die innere Erfahrung, immer triftiger, immer realer wird der in einem solchen Spruch eingeschlossene Sinn.

      Diesseits-Spiritualität

      Aber wird in einer solchen Meditation nicht einfach ein bestimmter Sinn vorgegeben? Die Frage ist berechtigt, und man kann sie eigentlich an alle von Steiner gegebenen Meditationen stellen. Und doch verfehlt sie das Wesen dessen, was hier mit «Sinn» oder von Steiner mit «Geistige Welt» gemeint ist. Der meditative Umgang mit einem solchen Spruch oder auch schon die Erfahrung, die man mit anhaltendem Bedenken eines Bleistiftes machen kann, führt nämlich zu der Einsicht, dass Sinn nicht fertig vorliegt, weder in Form von Begriffen noch in Form von Wesen, wie auch immer man diese bestimmen mag. Und die Welt liefert uns ihren Sinn schon gar nicht als fertigen mit. Wäre das der Fall, gäbe es keine Fragen und keine neuen Ideen. Sinn ist vielmehr ein Kontinuum, ein Möglichkeitsraum, der elastisch Sinnstiftungen ermöglicht, die sich im Laufe der Zeit, durch die Kulturen und durch Individuen wandeln können.

      Dass wir so oft den Eindruck haben, wir würden den Sinn von etwas mit unseren gewöhnlichen fünf Sinnen einfach aufnehmen, liegt vor allem daran, dass wir die Basis der alltäglichen Sinnstiftungen bereits im Kindesalter anlegen und habitualisiert haben. Jedes Rätsel aber zeigt uns, dass Sinnstiftung immer Eigenleistung ist, und jeder Streit zeigt uns, dass Sinn ganz unterschiedlich und doch berechtigt beigelegt werden kann.

      Es gehört zu den Grunddispositionen des Menschen, dass die Welt ihm den Sinn nicht mitgibt. Der Weltenlauf hält beim Menschen für einen Augenblick an und hält seinen Sinn zurück, damit der Mensch selbst zum Sinnsucher und Sinnstifter werden kann. Das begründet seine Freiheit und seine Würde.15

      Diese anthropologische Grundkonstante des Menschen nimmt die Anthroposophie in sich auf. Zwar mag sie zunächst so aussehen, als wollte sie die Menschheit mit Sinnangeboten versorgen, die denen der Religionen nicht nachstehen. Aber diese Sinnangebote sind nicht dazu da, um einfach und als äußerliche übernommen zu werden, sondern sie sind Vollzüge in Sinnstiftung, deren übender Mitvollzug zu eigener Sinnstiftung befähigt.

      Insofern und in der Terminologie,


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