Im Reiche des silbernen Löwen I. Karl May
Es fällt mir ganz und gar nicht ein, sie grad hierher zu locken, denn da würden sie allerdings erfahren, daß mehr als nur zwei Menschen hier gewesen sind. Das Gras und Moos ist hier so fest niedergedrückt, daß es sich bis morgen früh unmöglich ganz wieder erheben kann. Nein. Wir schaffen die Tiere fort, an einen Ort, wo sie leicht zu finden sind. Und dabei sollt Ihr mir helfen, wenn Ihr wollt.«
»Natürlich will ich. Welcher Ort wird das wohl sein?«
»Tim Snuffle ist von der Höhe gerutscht. Die Roten werden also zunächst da oben suchen. Dort binden wir die Tiere an.«
»Wann? – Früh?«
»O nein, denn da würden die Spuren bemerkt, welche wir dabei machen.«
»So müssen wir sie jetzt hinschaffen; da vergehen die Spuren bis morgen früh.«
»Richtig! Das werden wir thun. Aber Ihr seid gefesselt gewesen. Wird das Gehen Euch nicht Schmerzen machen?«
»O nein, denn Ihr habt mich nicht in der Weise gebunden gehabt, wie die Indianer dies zu thun pflegen.«
»So wollen wir nicht säumen, sondern gleich an das Werk gehen. Mr. Dschafar ist nicht gewöhnt, des Nachts durch den Wald zu gehen; er wird also hier bleiben und auf uns warten.«
Wir banden jedem der beiden Maultiere eines der Gewehre an das Sattelzeug und führten sie dann fort. Ich ging natürlich voran und Perkins folgte mir. In der Nähe der Stelle angelangt, wo Tim abgerutscht war, banden wir die Tiere an und kehrten dann zu Dschafar zurück, welcher nicht nur über seine Befreiung entzückt war, sondern sich auch darüber freute, daß er sein Pferd wieder hatte.
»Ich wollte, es wäre das meinige,« sagte Perkins, »denn nun muß ich laufen.«
»Seid Ihr denn ein guter Läufer?« erkundigte ich mich.
»Leider nicht.«
»So gebe ich Euch mein Pferd, und ich gehe.«
»Das wolltet Ihr wirklich?«
»Ja.«
»Ich bin Euch sehr dankbar dafür; aber ist es nicht unvorsichtig von Euch, Mr. Shatterhand?«
»Warum unvorsichtig?«
»Weil Ihr vorhin sagtet, daß Ihr mir Euer Vertrauen nicht gleich schenken könntet.«
»Was hat das mit der Unvorsichtigkeit zu thun?«
»Wie leicht kann ich Euch durchgehen, wenn ich reite, während Ihr lauft!«
»Pshaw! Ich brauchte nur zu pfeifen, so würde mein Pferd trotz aller Reitkünste mit Euch zu mir zurückkehren. Es hat indianische Dressur. Und wenn dies auch nicht der Fall wäre, so würde Euch meine Kugel sofort vom Pferde holen. Old Shatterhand weiß stets, was er wagen darf oder nicht. jetzt wollen wir aufbrechen.«
Wir führten unsere Pferde in der vom Flusse abgewendeten Richtung aus dem Walde hinaus. Als wir in das Freie gelangt waren, stiegen Dschafar und Perkins auf, um mir, der ich den Führer machte, zu folgen.
Hier war es heller als im Walde. Die Sterne schienen, und es gab also keinen Zweifel darüber, wohin ich die Schritte zu lenken hatte.
Längere Zeit hatte jeder mit seinen Gedanken zu thun; dann sagte Perkins, indem er das Schweigen unterbrach:
»Ihr wißt also genau, wohin es geht, Sir. Dürfen wir es auch erfahren?«
»Natürlich! Nach einer Anhöhe, welche von den Comantschen Makik-Natun genannt wird. Dort wollen sie bei den Gräbern ihrer Häuptlinge die Gefangenen töten. Heut war nichts mehr zu machen; ich hoffe aber, morgen ihnen die Gefangenen zu entreißen.«
»Auf welche Weise?«
»Das weiß ich jetzt noch nicht; der Augenblick muß es ergeben.«
»Wenn aber kein solcher Augenblick kommt?«
»So führe ich ihn herbei. Ich glaube, für zwei passende Gelegenheiten sorgen zu können; eine von ihnen muß ergriffen und benutzt werden.«
»Welche sind das?«
»Eine halbe Tagreise zwischen hier und dem Makik-Natun liegt ein Regenbett, welches im Frühjahr so viel Wasser führt und während der übrigen Zeit so viel Feuchtigkeit besitzt, daß dort ein Wald entstanden ist. Ich nehme mit Sicherheit an, daß die Indianer ihren Ritt dorthin richten, um ihre Pferde dort ausruhen, trinken und grasen zu lassen. Anderswo fänden sie keinen solchen Platz. Vielleicht finden wir dort Gelegenheit, die Gefangenen zu befreien.«
»Wenn aber nicht?«
»So bleibt uns freilich nichts übrig, als den Roten bis zum Makik-Natun zu folgen, wo die Gelegenheit sich dann unbedingt finden muß, und wenn ich sie bei allen Haaren herbeiziehen sollte.«
»Ihr seid ein couragierter Mann, Mr. Shatterhand. Wagt ja nicht gar zu viel!«
»Was ich wage, das wage ich für mich. Euch werde ich nicht zumuten, Euer Leben auf das Spiel zu setzen.«
»Ist Euch denn das Regenbette bekannt, von dem Ihr spracht?«
»Ja; ich war schon dort, wenn auch nicht von hier aus.«
»Nicht von hier? So können wir es ja sehr leicht verfehlen!«
»Das sagt Ihr und wollt ein Scout, ein Führer sein? Old Shatterhand hat sich noch nie verirrt; er ist stets dahin gekommen, wohin er kommen wollte.«
Dies war eine Bemerkung, welche ihn veranlaßte, die Unterhaltung nicht weiter fortzusetzen. Dafür begann Dschafar mir zu erzählen, wie er von den Roten überfallen ward. Er hatte sich verteidigt und mit seinen Kugeln zwei Indianer getroffen. Daher das Blut, welches wir gesehen hatten. Dafür war er viel fester gefesselt worden als die andern, und für einen qualvolleren Tod bestimmt. Hieran schloß er eine Beschreibung der Behandlung, welche ihm zu teil geworden war und eine Schilderung des Glückes, welches er nun empfand, wieder frei zu sein. Er sprach englisch, aber in einer so blumenreichen Weise, daß ich ihn für einen Orientalen gehalten hätte, auch wenn mir noch nichts über ihn gesagt worden wäre.
Wir unterhielten uns längere Zeit miteinander. Ich hätte gern Näheres erfahren, da er aber seine Verhältnisse nicht von selbst berührte, so hielt ich es nicht für angezeigt, ihn nach denselben zu fragen. Ein gebildeter Mann war er jedenfalls, gebildet nicht nur nach orientalischem, sondern sogar nach europäischem Begriffe. Er mußte sich wohl längere Zeit im Abendlande aufgehalten haben.
Später hielten sich beide zusammen, und während ich voranschritt, sprachen sie, wie es schien, von mir, denn sie dämpften zuweilen ihre Stimmen zum Flüstertone und blieben auch weiter hinter mir, als sie wohl gethan hätten, wenn ich nicht der Gegenstand ihres Gespräches gewesen wäre.
Perkins bot mir einigemal mein Pferd an; da ich aber nicht müde war, konnte er es behalten. So verging die Nacht, und der Morgen brach an. Als es so hell geworden war, daß wir uns sehen konnten, sagte er:
»Jetzt werden die Comantschen nach uns suchen und die Maultiere finden, Sir.«
»Gewiß. Und da es feucht im Walde ist, sind unsere Fußstapfen nicht mehr zu sehen. Je feuchter das Gras oder Moos ist, desto eher richtet es sich wieder auf. Sehen die Roten keine Spur, so nehmen sie an, daß die Snuffles keine Begleiter gehabt haben, und forschen nicht weiter nach.«
»Aber nach Mr. Dschafar werden sie suchen!«
»Auch nicht allzulange. Sie könnten ihn doch nur in dem Falle wieder ergreifen, wenn sie seine Fährte fänden. Da dies aber, wie ich voraussetze, nicht der Fall ist, so werden sie nicht viele Zeit auf eine Mühe verwenden, von der sie sich sagen müssen, daß sie fruchtlos ist.«
»Ich möchte bemerken, daß sie sein Verschwinden nicht begreifen können und darum ganz begierig darauf sein werden, eine Erklärung zu finden.«
»Unter gewöhnlichen Verhältnissen würden sie allerdings wohl die ganze dortige Gegend nach ihm absuchen; aber wir wissen ja, was sie vorhaben und daß sie eilen müssen. Sie dürfen nicht warten, bis die Ansiedler, die sie überfallen wollen, dies ahnen oder gar davon Wind bekommen. Darum werden sie den ihnen auf eine so rätselhafte Weise entwischten Mann lieber laufen lassen, als daß sie eine lange,