Im Reiche des silbernen Löwen I. Karl May
den Tod des Marterpfahles erleiden; aber wenn sie offen und ehrlich sprechen, werden wir ihnen die Freiheit geben. Haben sie den weißen Mann gekannt, der unser Gefangener war und gestern abend auf so unbegreifliche Weise verschwunden ist?«
Jim antwortete:
»Du legst uns diese Frage nun zum fünftenmal vor, und ich antworte zum fünftenmal ganz dasselbe: Wir haben ihn nicht gekannt.«
»Aber ihr wißt, wohin er ist?«
»Nein.«
»Er war gebunden, so fest gebunden, daß er sich nicht selbst losmachen konnte!«
»Du wirst dich irren; er wird eben nicht fest gebunden gewesen sein und hat sich selbst befreit.«
»Ich habe kurz vorher selbst seine Fesseln untersucht; sie waren gut.«
»So ist er wahrscheinlich ein Zauberer. Die Bleichgesichter haben ja auch ihre Medizinmänner und Tausendkünstler. So einem ist es sehr leicht, sich aus den festesten Banden zu befreien.«
»Nein. Es muß jemand dagewesen sein, der ihm die Riemen geöffnet hat.«
»Ganz unmöglich! Er lag ja mitten unter euch und wurde von euch allen bewacht.«
»Als wir dich und deinen Bruder fingen, gaben wir nicht auf ihn acht; in diesem Augenblicke ist er fort.«
»Trotzdem ihm die Hände und Füße gefesselt waren?«
»Ja. Es ist ein Bleichgesicht in der Nähe gewesen, welches den Augenblick benutzt und ihn fortgeschafft hat.«
»Einen Gefangenen aus siebzig Indianern herausgeholt? Das müßte ein verwegener, ja ein tollkühner Mann sein. Es gibt keinen vernünftigen Menschen, der dies wagen würde.«
»Es gibt einen, aber auch nur einen einzigen.«
»Wer wäre das?«
»Old Shatterhand. Ich kenne diesen weißen, räudigen Hund; ich weiß alles, was er gethan und gewagt hat. Er war einst mein Gefangener und hat uns gezwungen, ihn loszulassen. Das, was gestern abend geschah, ist ganz genau so, als ob er es gethan hätte. Wenn ich nicht wüßte, daß er weit von hier im Norden ist, um den Tod Winnetous, seines ebenso räudigen Bruders, zu rächen, so glaubte ich, er sei hier. Du hast mit deinem Bruder unser Lager beschlichen, als uns der Gefangene abhanden kam; ihr müßt den kennen, der ihn befreit hat.«
»Wir wissen nichts.«
»Das ist eine Lüge, welche euch das Leben kosten wird. Wenn ihr uns die Wahrheit sagtet, würden wir euch die Freiheit schenken.«
»Das ist auch eine Lüge!«
»Es ist keine!«
»Ich weiß, daß es nicht wahr ist und daß du uns durch dieses Versprechen zum Reden bringen willst.«
»Was To-kei-chun verspricht, das hält er!«
»Pshaw! Wenn du mit uns das Kalumet darauf rauchst, wollen wir es glauben.«
»To-kei-chun raucht mit keinem Gefangenen die Pfeife des Friedens.«
»Da hast du es; du willst uns täuschen! Ihr habt das Beil des Krieges ausgegraben; folglich ist jeder Weiße verloren, der in eure Hände fällt. Selbst wenn das wahr wäre, was du denkst, und wir es dir geständen, würdest du dein Wort nicht halten und uns hinrichten lassen.«
»So wollt ihr also nicht reden?«
»Nein.«
Der Häuptling hatte bis jetzt in ruhigem Tone gesprochen; er war der Meinung gewesen, daß er Jim zum Reden bringen werde. Nun sah er sich getäuscht und fuhr zornig auf:
»Was sagt der andere Snuffle dazu? Will auch er nichts gestehen?«
»No,« antwortete Tim in seiner kurzen, wortkargen Weise.
»So will ich euch sagen, daß ihr allerdings richtig gedacht habt: Ich hätte euch nicht freigegeben; ihr hättet dennoch sterben müssen; aber wir hätten euch eine Kugel gegeben, so daß euer Tod ein schneller gewesen wäre. Doch da eure Mäuler das Sprechen verlernt haben, werden wir sie euch zum Heulen und jammern, zum Klagen und Stöhnen öffnen. Ihr werdet alle Qualen erleiden, welche wir uns aussinnen können!«
»Pshaw, das werden wir nicht!«
»Ihr werdet es! Ich sage es euch, und in solchen Dingen halte ich Wort!«
»Ja, wenn du kannst; diesmal aber kannst du nicht!«
»Wer will mir verwehren, zu thun, was ich will?«
Jim sah ihm mit einem schlau forschenden Blicke in das Gesicht und antwortete dann:
»Nicht wahr, das möchtest du gern wissen? Das glaube ich! Die beiden Snuffles so am Marterpfahl schinden, das wäre für euch so das höchste der Gefühle; aber so wohl wird es euch nicht werden; dafür ist schon gesorgt!«
»Das sagst du nur aus Furcht vor uns!«
»Ich mich fürchten? Jim Snuffle und Furcht? Hahahaha! Ich sage dir, wenn ihr uns nur ein Haar krümmt, so seid ihr alle verloren!«
»Uff, uff! Kann so ein stinkender Hund, wie du bist, uns drohen?«
»Das kann ich, obgleich ich kein Hund bin. Es ist einer hinter euch her, der unsern Tod blutig rächen würde.«
»Wer?«
»Der, den du vorhin genannt hast.«
»Wen meinest du? Wen habe ich genannt?«
»Du erwähntest seinen Namen und daß er allein fähig sei, den verschwundenen Gefangenen befreit zu haben.«
»Meinst du etwa Old Shatterhand?«
»Ja.«
»Der soll hier sein?«
»Ganz in der Nähe!«
»Uff, uff! Glaubst du wirklich, mich betrügen zu können?«
»Ich will dich nicht täuschen, sondern was ich sage, das ist wahr.«
»To-kei-chun blickt in dein Herz und errät deine Gedanken. Was du sagst, hast du dir soeben erst ausgesonnen. Ich erwähnte vorhin Old Shatterhand; nur dadurch bist du auf den Gedanken gekommen, zu sagen, daß er sich in der Nähe befinde.«
»Nein, er ist wirklich da!«
»Wer hat es dir erzählt?«
»Niemand brauchte es mir zu sagen. Ich habe ihn gesehen.«
»Pshaw!« antwortete der Häuptling in verächtlichem Tone.
»Und mit ihm gesprochen!«
»Pshaw!«
»Ist es nicht wahr, alter Tim?«
»Yes,« nickte der Gefragte.
»Ihr lügt beide!«
»Nein!« beharrte Jim auf seiner Aussage. »Wir haben ihn nicht nur gesehen und mit ihm gesprochen, sondern wir sind sogar mit ihm geritten.«
»Früher, aber nicht jetzt!«
»Jetzt! Er war auch gestern abend bei uns und stieg mit mir zu euch hinab, um euch zu belauschen. Da stürzte mein Bruder von oben herunter und ich sprang vor, um ihn zu befreien. Das war eine große Dummheit von mir. Old Shatterhand war klüger; er blieb im Dunkeln. Da sah er eure Verwirrung und war so kühn, dieselbe zur Befreiung des Gefangenen zu benutzen.«
Dies war wahr und klang so wahr, daß der Häuptling doch stutzte. Ich stutzte nicht nur auch, sondern ich wußte gar nicht, was ich von diesem Jim Snuffle denken sollte. Er konnte alles, alles verderben. Wenn ihm der Häuptling Glauben schenkte und schnell seine Maßregeln darnach einrichtete, war nicht nur die Ausführung meines Vorhabens unmöglich, sondern es konnte sogar um mich geschehen sein. Es konnte für Jim nur einen Grund geben, meine Anwesenheit zu verraten, nämlich den Roten Furcht vor mir einzuflößen und sie dadurch abzuhalten, die Gefangenen zu töten.
To-kei-chun sah ihm eine ganze Weile still und forschend in das Gesicht; dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und fragte:
»Old Shatterhand ist also wirklich bei euch gewesen?«
»Ja.«
»Und