Der Waldläufer. Gabriel Ferry
Antwort wurde in einem so entschiedenen Ton gegeben, daß der Spanier darauf verzichten mußte, einen Entschluß wankend zu machen, der unerschütterlich schien, und jedermann dachte nur noch daran, so bequem wie möglich die Nacht hinzubringen.
Alle außer Tiburcio schliefen auch bald ein. Tiburcio aber war noch sehr jung, hatte vor kaum vierundzwanzig Stunden eine Frau verloren, die er wie seine Mutter liebte – und Tiburcio war verliebt! Drei Gründe, um nicht zu schlafen, sondern zu träumen. Anfangs bemächtigte sich eine tiefe Traurigkeit seiner Seele. Er befand sich in einer Lage, wo die Vergangenheit ebenso geheimnisvoll, seinen Augen ebenso undurchdringlich war wie die Zukunft.
»Ach, meine Mutter«, sagte er bei sich, denn immer bestand in seinem Herzen dieser Muttername; »ach, meine Mutter! Wer wird mir nun sagen, wer ich bin?«
Und er schien zu lauschen, als ob die Seufzer des Windes in den Blättern sich zur Stimme hätten gestalten können, um ihm Antwort zu geben. Tiburcio war weit entfernt, zu ahnen, daß es unter diesen Männern, die im Schein des Mondes oder dicht an der Feuerstelle lagerten, einen gab, der ihm den Namen sagen konnte, den er hätte tragen sollen.
Aber sterbend hatte ihm die Witwe Arellanos wenigstens ein Geheimnis enthüllt, das vielleicht interessanter war als das seiner Geburt. Die Entdeckung eines verborgenen Schatzes öffnete plötzlich den Augen Tiburcios eine glänzende Aussicht in die Welt seiner Träume; ein Traum selbst, glänzend wie der Stern, der aus der Nebelhülle hervortritt, strahlte vor seinen Augen. Eine Erscheinung, die er in seiner ersten Lage nur als ein Trugbild zu liebkosen wagte, trat plötzlich in die Wirklichkeit ein. Eine unüberschreitbare Entfernung schien sich auszufüllen, als ob durch Feenhand eine Brücke über einen Abgrund geworfen worden wäre.
Das Gold tut täglich diese Wunder. Hatte er nicht den Besitz einer reichen Goldmine in Aussicht? Er wagte es also, einen gestörten Traum wiederaufzunehmen, sich an das zu erinnern, was er von seiner Vergangenheit wußte, und sich die Zukunft auszumalen. Er begann, wieder vom Anfang an zu träumen. Zwei Jahre versetzte er sich zurück, und die Schranken des Zweifels und der Entmutigung fielen vor ihm wie ein düsterer Vorhang vor dem Zeichen des Maschinisten oder vor dem Stab eines Zauberers. Gerade wie diese Nacht hier, in der er jetzt träumte, öffnete ein weiter Wald vor seinen Augen seine durch die Dämmerung verdunkelten Bogengänge:
Ein Mann, ein junges Mädchen und Diener zu Pferd stellten sich ihm dar, unruhig und verstrickt in ein unentwirrbares Labyrinth von Lianen und Gesträuchen, und begrüßten ihn als ihren Schutzengel, der sie ihrem vorgesteckten Ziel zuführen sollte. Der Mann und die Diener erschienen ihm nur noch undeutlich; aber die bleichen Wangen, die schwarzen Augen, die wie Ebenholz dunklen Haare des jungen Mädchens strahlten noch in all dem wunderbaren Glanz, der damals so großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Wie zwei Jahre vorher beruhigte sie Tiburcio, brachte sie auf den verlorenen Weg und begleitete den Zug zwei Tage, die nur zu schnell verflossen.
Der Wald nahm dann auf dieser kurzen Reise einen neuen Anblick für ihn an; die Pflanzen atmeten einen ganz anderen Duft aus; er dachte an die purpurfarbigen Glockenblümchen, die er pflückte und mit denen das junge Mädchen, das seine Fröhlichkeit wiedergewonnen hatte, sein schwarzes Haar schmückte und die sie ihm mit bezaubernder Nachlässigkeit zurückgab, wenn die Glut ihrer Stirn den Kelch geschlossen hatte. Er dachte an einen Haltepunkt im Wald während einer Nacht der Wonne und der Angst. Alle schliefen – die Männer auf dem Moos, das junge Mädchen auf einem Pantherfell —, er allein wachte. Ein verbrannter Eichenstamm verbreitete nur einen hinsterbenden Glanz. Die Natur war schweigsam, aber nicht stumm. Er atmete inmitten des Schweigens den Duft der Jungfräulichkeit ein, der sanft mit dem durch die Nacht wiederbelebten Wohlgeruch der Moose, Blätter und des Sassafras gen Himmel zu steigen schien. Er hörte das kaum vernehmliche Geräusch des jungfräulichen Atems, das sich mit der Harmonie der Wälder vereinigte – ein ewiges Konzert, das jede Nacht die Erde der wunderbaren Welt singt.
Dann verschwand dies alles vor den Augen Tiburcios; das junge Mädchen kehrte nach Hause zurück. In ebendiesem Haus brachte er eine ganze Woche zu, trunken vor Liebe, aber ohne es zu wagen, seine Wünsche bis zu der, die er liebte, zu erheben. Bei den Festen der ihrer Wohnung nahe liegenden Dörfer hatte er sie hundertmal wiedergesehen, ohne mutiger zu sein, denn er war ja so arm! Aber jetzt … Tiburcio sah sich mächtig und reich und hoffte; dann fingen seine Augenlider an, schwer zu werden, und er schlief ein mitten in holden, schönen Träumen. – Ist es nötig, zu sagen, daß das junge Mädchen, das seine Erinnerung ihm wieder vorführte, die Tochter Don Agustin Peñas war und das fragliche Haus die Hacienda del Venado? —
Bei Anbruch des Tages wurden alle Schläfer aufgeweckt durch den Ton eines Glöckchens und den Widerhall der Hufe einer Cavalcada. Es war Benito, der die erschreckte Schar der Pferde seinem Versprechen gemäß zurückbrachte. Alle Reisenden waren sogleich auf den Füßen; aber vergeblich suchten sie die beiden Jäger; sie waren nicht mehr da und hatten sich, ohne daß jemand sie gehört hätte, entfernt.
Nachdem die Pferde gesattelt, die Maultiere beladen waren, setzte der Zug seinen Weg nach der Hacienda fort. Der Senator und Don Estévan ritten voran, während Tiburcio, der sich genötigt fand, hinter Cuchillo aufzusitzen, da diesmal kein Sattel für ihn leer war, ihnen mit Baraja folgte; dann kamen endlich die drei Diener. Die beiden Reiter waren also abermals zusammen auf demselben Weg. Der eine dachte daran, wie er die Entdeckung des Val d‘Or nur gegen das feierliche Versprechen, Arellanos zu rächen, erkauft hatte; der andere sann auf Mittel, sich Tiburcios bei erster Gelegenheit zu entledigen.
Der Tag wich eben der Nacht, als sich nach einem langen Marsch die Gebäude der Hacienda del Venado in der Ferne abzeichneten, schon verdunkelt durch die Abenddämmerung. Einige Zeit hindurch folgte der Zug noch einem durch die Wälder sich hinziehenden Weg.
In dem Augenblick, als der Zug den Wald verließ, um in die Ebene einzulenken, in deren Mitte sich die Hacienda erhob, traten zwei Männer aus dem Dickicht heraus, die Büchse in der Hand. Es waren die beiden Jäger, die am Morgen so plötzlich Abschied genommen hatten.
»Du hast dich durch irgendeine Ähnlichkeit verführen lassen«, sagte der ältere der beiden Jäger – das heißt der Kanadier – zu Dormilon.
»Ich bin meiner Sache gewiß, sage ich dir; er ist es! Fünfzehn Jahre haben nichts in seinem Aussehen und seiner Haltung geändert. Der Ton seiner Stimme ist der gleiche geblieben als zu der Zeit, da ich noch der Küstenwächter Pepe der Schläfer war. Aber seit fünfzehn Jahren haben ebensowenig meine Ohren noch meine Augen etwas vergessen. Also, Bois-Rosé, du kannst sicher glauben, was ich dir beteuere.«
»Übrigens«, sagte Bois-Rosé, »hat man vielleicht diesen Namen nicht vergessen; man begegnet öfter dem Feind, dem man entflieht, als dem Freund, den man sucht.« Nach diesen Worten stützte der kanadische Jäger sich mit melancholischer und nachdenklicher Miene auf den langen Lauf seiner Büchse und verfolgte wieder mit dem Auge die Reisenden, die bald hinter den Mauern der Hacienda verschwanden.
Die untergehende Sonne hüllte den Abend in purpurnen Nebel. Die einen Augenblick erleuchteten Hügel versanken in die gleichmäßige Farbe der Dämmerung, und die beiden Jäger, die ihre waldige Wohnung wieder betreten hatten, verschwanden ihrerseits in deren nächtlich dunklem Schatten.
11. Die Hacienda del Venado
Die Hacienda del Venado war – wie alle Wohnungen dieser Art an der indianischen Grenze, die den Einfällen umherschweifender Horden in diesen Steppen ausgesetzt sind – ebensowohl eine Art Festung als ein Landhaus. Aus Backsteinen und Werkstücken erbaut, von einer mit Schießscharten versehenen Terrasse umgeben, durch massive Tore verschlossen, konnte sie eine Belagerung durch Feinde aushalten, die erfahrener in der Kriegskunst waren als die benachbarten Stämme der Apachen.
An einer Ecke erhob sich ein ebenfalls aus Werkstücken erbauter Turm, über drei Stockwerke hoch, der die an die Hacienda stoßende Kapelle überragte. Dieser Turm konnte noch, falls der Hauptteil der Wohnung erobert war, ein fast uneinnehmbarer Zufluchtsort sein.
Endlich umgab noch starkes Pfahlwerk aus Palmenholz das Gebäude ganz und gar ebenso wie die Gesindewohnungen, die für die Leute und die Diener der Hacienda, für die Vaqueros und die gewöhnlichen Gäste bestimmt waren, die auf ihrer Vorbeireise von Zeit zu Zeit kamen und um gastliche Aufnahme