Jenny. Fanny Lewald
der ganzen Familie mit Freuden bemerkt wurde.
Da kam an dem Abende, an dem diese Erzählung beginnt, der unglückliche Zufall dazwischen, der Clara für lange Zeit von der Gesellschaft trennte, die Heirathsentwürfe ihrer Mutter für sie zunächst hinausschob, und Eduard in ihre Nähe brachte. Nach dem ersten Aufruhr, den dieses Ereigniß verursacht hatte, fing man im Hornschen Hause bald wieder an, sich den gewöhnlichen Beschäftigungen und Zerstreuungen hinzugeben, und Clara wurde von ihrer Mutter vernachlässigt wie früher, was ihr nach dem kurzen Traume von Glück um so schmerzlicher sein mußte. Fast immer, wenn ihr junger Arzt sie besuchte, fand er sie mit einer Wärterin allein, und seinem geübten Auge konnte es nicht entgehen, daß bei seiner Kranken die Seele empfindlicher noch als der Körper leide. Die Geduld, mit der sie ihre Schmerzen ertrug, die Sanftmuth und Ruhe ihres ganzen Wesens, und ein Zug von stiller Resignation machten ihm die Kranke werth. Er bemühte sich, durch Unterhaltungen mancher Art ihre Aufmerksamkeit zu beleben; er kam, so oft er es konnte, dehnte seine Besuche lange aus, und fand den schönsten Lohn dafür in der dankbaren Freude, mit der das junge Mädchen ihn begrüßte; in dem Genuß, den er selbst bald dabei zu empfinden begann.
Oft, wenn er sie am Morgen in möglichst gutem Wohlsein verlassen hatte, war sie Abends in einem aufgeregten, beunruhigenden Zustande, für den in ihrem körperlichen Befinden kein Grund vorhanden war, und den er mit Recht unangenehmen Gemüthsbewegungen zuschreiben mußte. So fand er sie denn auch eines Abends, weinend und so bewegt, daß sie kaum seine Fragen zu beantworten vermochte. Ein heftiger Streit der Eltern, veranlaßt durch Ferdinand’s Verschwendung und seine ungeregelte Lebensart, war unglücklicherweise in dem Krankenzimmer ausgebrochen. Der Vater hatte sich mißbilligend darüber geäußert, daß Ferdinand jetzt fast niemals mehr bei Tisch erscheine, daß er seine Zeit in leichtsinniger Gesellschaft verbringe, daß er durch die unverzeihliche Schwäche der Mutter in all diesen Fehlern bestärkt werde, die er als Vater nicht länger dulden wolle. Gereizt durch den doppelten Tadel, der sie und ihren Liebling traf, hatte die Commerzienräthin heftig erwiedert, sie könne eine Lebensweise an ihrem Sohne nicht so strafbar finden, zu der des Vaters früheres Betragen ihm das Beispiel gegeben und die sie Jahre lang an ihrem Manne habe erdulden müssen. Trotz Clara’s dringenden Bitten, trotz ihrer flehentlichen Worte, sie nicht zum Zeugen dieser entsetzlichen Scene zu machen, war sie dennoch fortgesetzt worden, bis die Mutter in höchster Entrüstung das Zimmer verließ, und der Vater allein bei ihr zurückblieb, sich vor der Tochter bitter über das Loos beklagend, das ihm an der Seite ihrer Mutter geworden sei.
Bald darauf war Eduard eingetreten. Clara war allein. Die Krankenwärterin saß in der geöffneten Nebenstube schläfrig strickend bei der Lampe, deren Schein durch einen grünen Ueberwurf gemildert war. Alles war still in dem Zimmer, und Eduard hörte um so deutlicher an den unruhigen Athemzügen der Leidenden, daß sie eben erst zu weinen aufgehört hatte. Freundlich fragte er sie nach ihrem Befinden, er wollte ihre Hand ergreifen, um sich durch den Pulsschlag selbst davon zu überzeugen, aber sie zog die Hand rasch fort, und sagte: »Ach! das beweist heute nichts; ich leide freilich, aber Sie können mir nicht helfen, lieber Doctor!« und dabei brach sie auf’s Neue in heiße Thränen aus.
Der Doctor beschied sich und versuchte sie um ihr körperliches Uebel zu befragen, sie war aber so aufgeregt, daß sie, ihre sonstige Zurückhaltung gänzlich vergessend, ihn mit den Worten unterbrach: Täuschen Sie sich nicht, Herr Doctor! ich will Sie auch nicht länger damit hintergehen — die äußere Wunde kann nicht heilen, ich kann nicht genesen, so lange meine Seele auf das Grausamste zerrissen wird. Ich wollte oft, ich brauchte nicht zu leben!
Und denken Sie nicht an Ihre Eltern? Wissen Sie nicht, daß auch für das Leiden der Seele oft wunderkräftiger Balsam in der Zukunft liegt? fragte Eduard. Gerade ein Gemüth, wie das Ihre, muß im Leben Freuden finden, weil es geschaffen ist, Freude zu bereiten durch sein bloßes Sein.
Ich habe Niemandem Freude gemacht, ich habe immer allein gestanden unter den Meinen, von Kindheit an; und ohne meines Vaters Liebe wüßte ich kaum, daß ich eine Heimath habe, entgegnete sie ihm schnell. Meinen Tod würde man bald vergessen, und er würde vielleicht ein Glück, er würde zu einem Versöhnungsmittel werden. Sie sagen, ich hätte ein weiches Gemüth; beklagen Sie dann mein Schicksal, das mich in die kälteste Atmosphäre versetzte, in der ich täglich tausendfachen Tod erleide!
Erschöpft lehnte sie sich bei diesen Worten in die Kissen zurück. Der höchste Punkt der Aufregung war vorüber, sie weinte schweigend eine Weile fort, der Doctor ließ sie gewähren, weil er diese Thränen als das beste Beruhigungsmittel kannte; aber er betrachtete das schöne Mädchen mit Bedauern. Clara war eine jener Frauennaturen, die, wie er es eben gegen sie selbst ausgesprochen, durch ihr bloßes Erscheinen wohlthuend wirken. Eine gleichmäßige Ausbildung aller Seelenkräfte, bei glücklicher Anlage, machte, daß Leute von dem verschiedensten Charakter sich von ihr angezogen fühlten. Der Kluge nannte sie klug, der Leidende theilnehmend, der Frohe fröhlich, und Alle fühlten sich erquickt durch ihre Güte und das Wohlwollen, mit dem sie Jedem begegnete. Man fand sie liebenswerth, man war für sie eingenommen, ehe sie irgend etwas gethan hatte, dies Urtheil zu rechtfertigen. Solch ein Mädchen könnte und müßte der Schutzgeist eines Hauses sein, sagte sich Eduard, und es that ihm leid, daß dieses milde Wesen einer Familie angehöre, in der es weder glücklich zu sein, noch glücklich zu machen vermochte.
Als Clara sich beruhigt hatte und das medicinische Examen vorbei war, ermahnte der Doctor sie, sich so viel als möglich zu schonen, sich ruhig zu verhalten. Bedenken Sie, sagte er, daß der Körper durch Ihre Gemüthsbewegung leidet und nicht die frühere Kraft gewinnen kann, und daß Sie, andererseits, bei diesem gereizten Nervenzustande, jedes geistige Leid doppelt schwer empfinden. Mit diesen Worten wollte er von ihr scheiden, aber sie war wieder Herr über sich selbst geworden, und hielt ihn noch zurück. —
Vergessen Sie, was ich heute sagte, bat sie ihn, ich bin krank, und dabei übertreibt man sein Empfinden. Und denken Sie nicht ungleich von mir, weil ich die Meinen im Unmuth angeschuldigt habe. Glauben Sie, Herr Doctor! fügte sie hinzu, indem sie zu lächeln versuchte, ich bin nicht so undankbar, als ich Ihnen heute erscheinen mußte, und ich möchte nicht, daß Sie mich dafür hielten.
Liebes, gutes Fräulein, wie mögen Sie glauben, daß ich an Ihnen irre werden könnte? rief Eduard aus. Genügt es denn nicht, daß ich Sie kenne, daß ich seit Wochen Ihre Geduld, Ihre Fügsamkeit bewundere, um ein schönes, ein reines Bild Ihres Wesens in mir festzustellen? Glauben Sie mir, dem Arzte offenbart sich die Schönheit der Menschennatur ebenso oft, als er von der erbärmlichen menschlichen Schwachheit unangenehm überrascht wird. Ihnen danke ich das Erste, und wenn ich als ein kalter Zweifler zu Ihnen gekommen wäre, Ihnen hätte ich die Ueberzeugung zu verdanken, daß im Menschen ein sanfter Strahl der Gottheit lebt.
O! ein so schlechter Christ sind Sie gewiß nicht, daß Sie jemals an Gott gezweifelt und erst meiner Belehrung zum Glauben bedurft hätten! rief Clara, um ihre Bewegung zu verbergen.
Indem fiel ihr aber das Thörichte dieser Aeußerung ein, und ihre Verlegenheit nahm zu, als Eduard lächelnd antwortete: Ein Gottesleugner bin ich in der That nicht; aber sicher ein herzlich schlechter Christ, da ich ein Jude bin. Gönnen Sie mir also immerhin die Belehrung durch Ihr Beispiel. Wenn es mich auch nicht bekehrt, so bessert und erfreut es mich, und für Beides bin ich Ihnen nur zu gern verpflichtet.
Damit empfahl er sich und ließ Clara in eigenthümlicher Bewegung zurück. Sie hatte ihren Arzt liebgewonnen und ein unbedingtes Zutrauen zu seiner Behandlung gefaßt, sie achtete ihn als Mann, heute hatte sie ihn tief in ihrer Seele lesen lassen. Das Unglück ihres ganzen Lebens, das Niemand kannte, hatte sie ihm enthüllt, er hatte sich dabei gegen sie wie ein Bruder mild und gut gezeigt, sie war ihm näher getreten, als jemals einem andern Manne, und — er war ein Jude. Sie erschrak, und mußte doch lächeln, denn sie hatte es gewußt, und die Ihrigen hatten sie damit geneckt, daß sie darauf bestanden, sich nur von einem Arzte des »auserwählten Volkes« behandeln zu lassen. Man hatte sie oft genug um den eigentlichen Grund dieser Wahl gefragt, und doch konnte sie die Thatsache so ganz vergessen, daß sie sie in diesem Augenblicke überraschte. Noch vor einigen Tagen hatte William, der öfter in ihrem Krankenzimmer erschien, mit großer Theilnahme von der Meierschen Familie gesprochen, und dafür eine Strafpredigt der Commerzienräthin aushalten müssen, die er mit verständigen Gründen zurückgewiesen