Die Inseln der Weisheit. Alexander Moszkowski
gemeinsame Salon barg als Hauptschatz eine mit Sorgfalt zusammengestellte Bücherei, hauptsächlich wissenschaftlichen Inhalts. Unter allen Substanzen, die wir mitführten, war sie, wenn auch nicht die unbedingt wichtigste, so doch die erfreulichste, im Hinblick darauf, daß eine so lange Fahrt endlich einmal die ungestörte Muße zum genußreichen Lesen und Studieren versprach. Schon der Entwurf des Kataloges für die Bücheranschaffung bereitete mir festliche Stunden, umsomehr, da Fräulein Eva sich daran mit Umsicht und Kennerschaft beteiligte. Unnötig, zu betonen, daß die »Atalanta« in technischer Hinsicht mit den modernsten Hilfsmitteln ausgerüstet war, mit Kreiselkompaß, drahtloser Telegraphie und mit den feinsten Apparaten zur Beobachtung der Erscheinungen, die uns nach menschlicher Voraussicht unterwegs begegnen konnten.
Der Personenbestand umfaßte außer der Mannschaft und dem bereits bekannten Hauptquartett nur wenige, die eine Erwähnung verdienen. Der Kapitän Ralph Kreyher, ein auf zahlreichen Fahrten erprobter Deutsch-Amerikaner, war wohl nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Wäre es nach ihm allein gegangen, so hätte er die »Atalanta«, wie schon so oft vordem, nach vergnüglicheren Punkten gelenkt, als nach ungewissen Inseln. Tatsächlich unternahm er bald nach der Ausfahrt mehrere Versuche, um uns zugunsten des Mittelländischen Meeres umzustimmen, von dessen Strandjuwelen Nizza, Bordighera und besonders Monte Carlo er im Sinne des Genusses überzeugter war, als von den zweifelhaften Schönheiten südlich der Aleuten. Seine Bekehrungsversuche hatten freilich nicht den geringsten Erfolg, wenn auch der Amerikaner sich allenfalls mit dem veränderten Programm abgefunden hätte. Aber an dem Grundstatut war nicht zu rütteln, und dieses fußte auf der parlamentarischen Grundlage der Mehrheit. Also es gab für diese ganze Expedition keine souveräne Bestimmung eines einzelnen, und ich selbst war weit davon entfernt, mir ein Oberkommando anzumaßen, nachdem Ziel, Sinn und Zweck der Fahrt unzweideutig festgelegt waren. Es galt sonach für weitere Einzelheiten das Prinzip der Abstimmung in einer siebenköpfigen Körperschaft, die sich aus mir, den beiden Mac Lintocks, Donath Flohr, dem Kapitän, dem Waffenoffizier und dem Arzt zusammensetzte. Dem Offizier Geo Rotteck war die sozusagen militärische Sicherheit des Schiffes anvertraut, mit der Maßgabe, daß er und die von ihm einstudierten Mannschaften keinen Schuß ohne die äußerste Defensivnot lösen durften. Der Arzt, Dr. Melchior Wehner, dessen Kenntnisse über das rein Medizinische erheblich hinausragten, begann seine Tätigkeit damit, daß er uns mit Impfstoffen gegen alle erdenklichen Zufälle immunisierte. Alles in allem ein vortreffliches Septuor, dessen Beschlüsse ohne erregte Kammerdebatten zustande kamen. Das erste Votum erfolgte im Stimmverhältnis von sechs zu eins, und ergab den Sieg der Grundidee über den Spezialwunsch des Kapitäns, der übrigens seine abwegige Phantasie schnell genug vergaß und sich fortan mit strenger Pflichttreue in den Dienst der Sache stellte. Genauer präzisiert ging der Beschluß dahin, die kürzeste Linie einzuhalten: also quer durch den Atlantic und den Panamakanal zu fahren, dann nordwestlich abzubiegen mit dem vorläufigen Richtungsziel der Hawais, nördlich deren wir die unbekannten Gelände anzutreffen hofften.
Die ersten Tage verstrichen ohne nennenswerte Zwischenfälle und wir konnten uns einreden, eine vom Wetter begünstigte Erholungs- und Vergnügungsreise zu absolvieren, wenn nicht ein gewisses Arbeitspensum auf uns gelastet hätte. Dieses ergab sich aus der Sprachfrage: welche Mittel standen uns zu Gebote, um uns mit den Menschen zu verständigen, die wir aus ihrem geographischen Dunkel aufzuscheuchen beabsichtigten? Und wie sollten wir uns mit Idiomen vertraut machen, von denen noch nie eine Silbe in unsern Kulturkreis gedrungen war?
Auch hier galt es nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit vorläufige Schlüsse zu ziehen und uns durch bekannte Daten dem Verhüllten wenigstens um einige Grade anzunähern. Es stand zu vermuten, daß die Sandwich-Dialekte ihren sprachlichen Einfluß irgendwie weiter nach Norden erstrecken würden, daß man also um den Anfang der Schwierigkeit herumkäme, wenn es gelänge, sich die Elemente der Sandwichsprachen anzueignen.
Erster Nutzen der Schiffsbücherei! Der Katalog gab Hinweise, wir begannen Spezialwerke zu wälzen, insonderheit die von Codrington (The Milanesian languages), Gabelentz, Bleek und anderer Forscher, die über die Verhältnisse der einschlägigen Sprachen, besonders der polynesischen Formen, gute Auskunft gaben. Bei aller Verschiedenheit der Idiome wurden Gemeinsamkeiten erkennbar, und diese befestigten meine alte Überzeugung, daß man beim Studium selbst der entlegensten Sprachen niemals ganz ins unbekannte Dunkel hineintappt. Zumal bei den Hauptwörtern, als dem festen Gerüst der Sprachen, treten überraschende Verwandtschaften auf, die das Lernen erleichtern und uns sozusagen Leitseile und Geländer in die Hand geben. Das Malayische, das wurzelhaft mit dem Indischen zusammenhängt und von Anklängen an Sanskrit durchsetzt ist, stand nun für uns im Mittelpunkt der Studien. Und immer klarer trat der Merksatz hervor: Wir ahnen, daß einer, der mit gehörigen Kenntnissen gerüstet, alle Sprachen der redenden Menschen überschauen und vergleichen könnte, in ihnen nur verschiedene aus einer Quelle abgeleitete Mundarten erkennen würde und Wurzeln wie Formen zu einem einzigen Stamme zurückzuführen vermöchte. Dieser Satz ist einer Autorität gerade bei der Ergründung der Sandwichsprachen zugeflossen, also derjenigen Ausdrucksmittel, die uns nach aller Voraussicht in noch unentdeckten Inseln zur Verständigung mit den Eingeborenen dienen sollten.
Ich möchte auf gut Glück einige Proben herausgreifen, um derartige Zusammenhänge und Verzweigungen zu verdeutlichen: Make bedeutet im Malayischen (Sandwich-Hawaischen) töten, schlagen, fast genau wie im Ebräischen Maku; eine wohlriechende Pflanze heißt im Polynesischen: Aromä; die Sonne: Al (urverwandt mit Helios); die weibliche Brust: Titi (urverwandt mit Zitze, womit auch das französische teton, das althochdeutsche tutte (Tütte) zusammenhängt). Im Hindostanischen finden wir für Schreibfeder: Kalam – lateinisch: calamus, griechisch: kalamos, das Schreibrohr, das Rohr überhaupt, wovon unser Kalmus. Hindostanisch schwer: »bari« weist auf das griechische baros; der indische Feuergott Agni auf das lateinische ignis; trinken: pina auf das gleichbedeutende griechische »pino«; das Zimmer: kamira auf kamara, Kammer. Vom Polynesischen leiten wiederum Fäden zum Madagassischen und Innerafrikanischen, und hier anscheinend abseits jeder Verwandtschaftsmöglichkeit, heißt die Mutter: Ma und Mama, der Vater: Baba und Papangue; das Wasser: egua (aqua); ich gehe: ando (genau wie im Italienischen); Ja: (in der Bamba-Sprache): »J—a«; Öl (in der Bari-Sprache): Oelet; Tod: Doda; Zehn: Tekke (griechisch: deka), u.s.w. Auch wenn man im Klange dem Zufall einen gewissen Spielraum zugesteht, wird man nicht umhin können, gewisse innere Grundverwandtschaften zwischen den Worten anzunehmen.
Einige Untersucher sind in dieser Hinsicht sehr weit gegangen, vielleicht über das zulässige Maß hinaus: Swift berichtet über die unfaßbare Sprache im Fabellande der »Hauyhn-hnms« und bemerkt dazu, daß sie dem Hochdeutschen am nächsten stünde. Diese Stelle hatte in mir die leise Hoffnung angeregt, auch in den Unwahrscheinlichkeiten der polynesischen Stämme irgendwo auf deutsche Sprachsplitter zu stoßen. Aber hieraus ergab sich nicht die geringste Hilfe; es blieb wirklich nichts übrig, als das Gedächtnis mit Neuformen auf›s äußerste zu strapazieren. Wir fragten uns auf Grund der genannten Hilfswerke wechselseitig ab, es stellte sich heraus, daß mein mit angeborenem Sprachsinn begabter Freund Donath in diesen seminaristischen Übungen weitaus am raschesten vorwärts kam. Er hat sich auch tatsächlich im Weiteren als Dolmetscher ausreichend bewährt, ihm zunächst Fräulein Eva, die sich über manche Schwierigkeiten durch feinhöriges Erraten und Kombinieren hinwegzuhelfen wußte. Ich lasse es bei diesen Andeutungen bewenden, um mich nicht in jedem Einzelfalle beim Sprachlichen aufzuhalten; es sei also vorweggenommen, daß wir auf unserer ganzen Reise an keinen Punkt gerieten, wo die Verständigung versagte.
Einige Episoden verdienen Erwähnung. Als wir uns bereits im Stillen Ozean befanden, regte Donath die phantastische Frage an, ob es nicht angängig wäre, unterwegs unseren Antipoden einen Besuch abzustatten; er dächte sich das sensationell, einmal mit Berlin zu gegenfüßeln. Der Kapitän zeigte ihm auf der Karte, daß dies theoretisch wohl denkbar, praktisch aber im Rahmen unseres Programms nicht ausführbar wäre. Mein Freund stand hier auch wirklich nicht ganz auf der Höhe geographischer Einsichten. Erstlich besitzt Berlin überhaupt keine menschlichen Antipoden. Die sogenannten Antipoden-Inseln führen ihren Namen entsprechend ihrer Gegenlage zu London, genau zu Greenwich, und auch zu ihnen wäre der Weg untunlich gewesen, da wir uns ja nördlich vom Äquator befanden. Dafür wurde Donath versprochen, daß er andere Gegenpunkte von Berlin