Tausend Und Eine Nacht. Gustav Weil
»O mein Herr, es stehen mehr als zehntausend Menschen, Männer und Weiber, vor der Türe und schreien: O der Erschlagene! und deuten auf unser Haus hin.« Als der Kadhi dies hörte, kam es ihm sonderbar vor; er ward zornig, öffnete die Türe und erschrak, als er die vielen Leute sah. Er sagte: »O ihr Leute, was wollt ihr?« Sie antworteten: »Du Verdammter! du Schwein! was mißhandelst du unsern Herrn?« Er versetzte: »Was hat mir denn euer Herr getan, daß ich ihn mißhandeln sollte? Hier steht mein Haus vor euch offen.« Da sagte der Barbier: »Du hast ihn eben mit der Peitsche geschlagen, ich habe gehört, wie er geschrieen hat.« Der Hausherr fragte: »Was hat denn euer Herr getan, daß ich ihn schlagen sollte? und was hat euren Herrn zu mir geführt?« Da sagte der Barbier: »Sei mir kein so niederträchtiger, verdammter Alter! Ich weiß alles. Deine Tochter liebt ihn, und er liebt sie wieder, und weil du dies erfahren, hast du deinen Dienern befohlen, ihn zu schlagen. Bei Gott! der Sultan soll zwischen uns entscheiden; gib ihn sogleich seinen Leuten heraus, oder ich gehe ins Haus und bringe ihn heraus; das wird dir aber keine Ehre machen.« Da sagte der Kadhi, den diese Worte empörten, und der vor den Leuten sich schämte: »Wenn du wahr redest, so komm‘ und bringe ihn heraus!« Der Barbier lief ins Haus; als ich dies sah, suchte ich eine Ausflucht oder einen Ort, wo ich mich verbergen könnte. Ich fand nichts, als eine große Kiste im Zimmer; ich sprang hinein, machte den Deckel zu und hielt den Atem zurück. Als der Barbier in den obern Stock kam, wo ich war, und sich rechts und links umdrehte und nichts als die Kiste fand, in der ich lag, nahm er sie auf den Kopf und ging schnell damit fort; ich hatte schon meine Besinnung verloren. Als ich sah, daß er mich nicht lassen würde, öffnete ich die Kiste, sprang auf die Erde und verrenkte ein Bein. Nun war die Haustür geöffnet. Ich sah eine große Volksmenge; da ich aber viel Gold bei mir hatte, das ich für einen solchen Tag zu mir gesteckt, streute ich es unter den Leuten aus, so daß sie beschäftigt waren, das Gold und Silber aufzuheben, während ich durch die Straßen Bagdads lief, bald rechts, bald links, der verdammte Barbier stets hinter mir her; er folgte mir auf dem Fuß, und ich konnte mich nicht von ihm los machen, er schrie in einem fort. »O mein Herr, sie haben dich plötzlich mir entreißen wollen, sie haben den umbringen wollen, der mir, meiner Familie und meinen Freunden so viel Gutes erwiesen! Gelobt sei Gott, der mir gegen sie beigestanden, und mit dessen Hilfe ich meinen Herrn aus ihrer Gewalt befreit.« Er sagte mir dann: »Wo willst du jetzt hin, mein Herr? Hätte mich Gott nicht dir zu Hilfe geschickt, so wärest du ihnen nicht entgangen; sie hätten dich gewiß in ein großes Unglück gestürzt, aus dem dich niemand hätte retten können. Wie sehr wünschte ich für dich zu leben; du hast mich beinahe umgebracht durch deinen albernen Gedanken, allein gehen zu wollen; doch ich verzeihe es deiner Unwissenheit, du hast wenig Verstand und handelst zu unbesonnen.« — »Nun«, fuhr der Jüngling fort, »hatte ich noch nicht genug durch ihn gelitten, er verfolgte mich durch alle Straßen Bagdads und schrie mir nach, so daß mir vor Ärger fast die Seele ausging. Im heftigsten Zorne ging ich dann in einen Chan mitten im Bazar, und bat den Eigentümer, ihm den Eingang zu versperren; ich setzte mich hier in ein Magazin und dachte: Gehe ich wieder nach Hause, so kann ich diesen verdammten Barbier nicht los werden, er wird Tag und Nacht bei mir bleiben; ich aber kann ihn nicht mehr vor Augen sehen. Ich schickte daher sogleich nach Zeugen, traf die nötigen Anordnungen für meine Familie, teilte den größten Teil meines Vermögens aus, bestellte einen Verwalter für die Meinigen, und befahl ihm, mein Haus und meine Güter zu verkaufen, gab ihm meine Aufträge für Groß und Klein, nahm einen Teil meines Vermögens mit mir, und verließ noch an demselben Tage den Chan und reiste hierher, um diesen Kuppler los zu werden, und wohne nun schon eine Weile hier. Als ich auf eure Einladung euch besuchte und diesen Mann unter den Gästen bei euch fand, diesen verdammten Barbier da, wie konnte es mir hier in seiner Gesellschaft behagen, nach dem, was mir durch ihn widerfahren; ich habe seinetwegen mein Bein verrenkt, mein Vaterland und meine Familie verlassen, und nun finde ich ihn wieder hier.« Der junge Mann beharrte darauf, sich nicht zu setzen. Als wir mit Staunen diese Geschichte gehört und darüber betrübt waren, fragten wir den Barbier: »Ist das, was der junge Mann von dir sagt, wahr? und warum hast du dies getan?« Da erhob sich der Barbier und sagte: »O ihr Leute! was ich ihm getan, geschah mit Absicht und Vorbedacht; ohne mich wäre er zugrunde gegangen; mir hat er seine Rettung zu verdanken, und besser ist ihm etwas am Fuße, als am Leben zugestoßen. Ich habe dies auf Gefahr meines Lebens getan; doch ich habe Gutes ausgestreut an Leute, die es nicht verdienen. Bei Gott! ich war kein Schwätzer, ich rede am wenigsten von meinen sechs Brüdern, und bin der Klügste unter ihnen; ich will euch etwas erzählen, was mir wiederfahren, damit ihr mir glaubet, daß ich wenig rede.
Geschichte des Barbiers
Ich war einmal in Bagdad zur Zeit des Kalifen Mustanßir,Mustanßir war nicht Sohn, sonder Urenkel des Mustadi; er trat 1226 n.Chr. die Regierung an. Sohn des Mustadi; der Kalif residierte damals in Bagdad, er liebte die Armen und die Gelehrten und die Rechtschaffenen. Es traf sich nun, daß er über zehn Leute zu richten hatte und dem Polizeiobersten von Bagdad befahl, sie am Feiertage vor ihn zu bringen.
Diese zehn Männer waren Straßenräuber, welche die Wege unsicher machten; der Befehlshaber schiffte sie zusammen auf einem kleinen Nachen ein; als ich sie sah, dachte ich: »Bei Gott, die sind gewiß zusammen irgendwo eingeladen, oder bringen den Tag beisammen, essend und trinkend, in diesem Nachen zu; es soll niemand außer mir sie unterhalten.« Mit großer Entschlossenheit und Männlichkeit machte ich mich auf und ging zu ihnen ins Schiffchen. Als sie am Ufer bei Bagdad landeten, kamen ihnen sogleich Polizeidiener entgegen und legten sie in Fesseln, auch um meinen Hals warf man eine Kette, alles wegen meiner Festigkeit und weil ich wenig rede. Ich schwieg also immerfort und sagte kein Wort. Man führte uns miteinander in Ketten vor den Emir der Gläubigen, welcher befahl, daß man alle zehn köpfe. Der Scharfrichter fing an, einen nach dem anderen zu köpfen, bis er zehn Köpfe abgeschlagen und nur ich noch übrig war; da sah der Kalif den Scharfrichter an und sagte ihm: »Warum hast du nur neun geköpft?« Er antwortete: »Bewahre mich Gott, o Fürst der Gläubigen! daß ich nur neun Köpfe abschlage, wenn du mir befiehlst, zehn Menschen zu köpfen!« Der Kalif versetzte: »Hier ist ja noch der zehnte vor dir.« Aber der Scharfrichter antwortete: »Bei Gott und deiner Gnade, ich habe zehn geköpft.« Sie zählten dann die Köpfe und fanden deren zehn. Da sah mich der Kalif an und sagte mir: »Wehe dir! warum schweigst du in einem solchen Falle? und wie kommst du zu diesen blutigen Menschen? Du bist doch ein alter Mann, warum hast du so wenig Verstand?« Als ich dies vom Kalifen gehört, richtete ich mich auf und sagte: »O Fürst der Gläubigen! Ich bin der Schweigende, obschon ich so viel Tugend, Weisheit, Gelehrsamkeit, Philosophie, süße Beredsamkeit und Fertigkeit im Antworten, als andere Leute, besitze. Unerreichbar und unbeschreiblich aber ist die Fertigkeit meines Verstandes, die Kürze meiner Worte, die Vortrefflichkeit meiner Fassungskraft und meiner geistigen Fähigkeiten. Als ich gestern diese zehn Leute in den Nachen steigen sah, so dachte ich, sie seien irgendwo eingeladen, und gesellte mich zu ihnen; sie setzten aber bloß über den Strom, stiegen sogleich wieder ans Land, und es widerfuhr ihnen, was du wohl weißt. So geht‘s mir immer in meinem Leben: Ich erzeige den Menschen Gutes, und sie vergelten es mir mit Schlechtem.« Als der Kalif meine Rede gehört, lachte er so heftig, daß er auf den Rücken fiel; er merkte wohl, daß ich sehr ernst bin, wenig rede und nichts Überflüssiges sage, wie dieser junge Mann es da glaubt, den ich von den Todesschrecken befreit, und der es mir so schlecht belohnt. Der Kalif sagte mir dann: »Sind deine sechs Brüder auch so, wie du?« Ich antwortete: »Ihr ganzes Leben und alle ihre Taten gleichen den meinigen nicht; ebensowenig ihre äußere Gestalt. Du beleidigst mich durch diese Frage. Jeder von ihnen hat einen Leibesfehler: der eine ist halb blind, der andere zahnluckig, der dritte bucklig, der vierte blind, der fünfte hat abgeschnittene Ohren und der sechste abgeschnittene Lippen, Glaube nicht, daß ich gerne viel rede; ich möchte im Gegenteil zeigen, daß ich ernster bin, als sie alle, und wenig rede. Jedem von ihnen ist ein Abenteuer begegnet, wodurch er verstümmelt wurde.«
Geschichte des ersten Bruders des Barbiers
Der Älteste war ein Schneider in Bagdad; er arbeitete oben in einem Laden, den er gemietet, und unten war eine Mühle und ihm gegenüber wohnte ein reicher Mann. Als nun eines Tages mein buckliger Bruder in seinem Laden nähte und den Kopf in die Höhe streckte, sah er am Fenster eine Frau, schön wie der aufgehende Mond. Sobald er sie erblickte, entbrannte ein Feuer in seinem Herzen; er hob den ganzen Tag den Kopf in die Höhe nach dem Fenster