Das letzte Märchen. Paul Keller
Pack los werden.«
In dem Stationsgebäude fiel mir nichts Besonderes auf; es war ganz nach preußischem Muster eingerichtet: einfach, praktisch und ungemütlich. Die Lampen brannten, und die Kellnerin schlief. Das war, weil gesetzliche Nacht war.
Herr von Stimpekrex bestellte bei dem schlaftrunkenen Mädchen vier Tassen Kaffee und verlangte außerdem Schreibzeug, sowie, daß der Stationsvorsteher erscheine. Hierauf schrieb er den Krähen vier Anweisungen über je 200 Gramm Regenwurmfleisch. Das war die Taxe. Eine Extragratifikation bekamen die Krähen nicht, und das wird in unserem Falle wohl auch der trinkgelderfreudigste Mensch begreiflich finden.
Die freche Gesellschaft erhob nach Empfang der Anweisungen einen furchtbaren Lärm vor dem Stationsgebäude, und besonders das schwarze Tier, auf dem ich geritten war, machte riesigen Skandal über unsere angebliche »schmähliche Knickrigkeit« und meinte, das weitere wird sich finden.
Wenn jemand wütend ist und gern drohen will, aber absolut nicht weiß, womit er drohen soll, dann sagt er immer: »Das weitere wird sich finden!« Es »findet sich« gewöhnlich dann rein gar nichts. Also nahm ich auch diese Krähendrohung sehr leicht, diesmal aber sehr zu meinem Schaden, wie sich im Verlauf dieser ernsthaften Geschichte zeigen wird.
Inzwischen erschien der Stationschef. Er kam mir sehr sonderbar vor, schwankte immer hin und her und hatte die Kokarde seiner roten Mütze nach hinten gerichtet. Auch redete er soviel vergnüglichen Unsinn, daß ich mich eines ganz bestimmten Verdachts nicht erwehren konnte.
Herr von Stimpekrex schrie das vergnügte Männlein gewaltig an, stellte sich als Gesandten des Königs vor, und bestellte einen Extrazug.
»Jhähä, – jawohl ja, – Extrazug, – Extragesandter – wupp – wupp – Wuppgesandter!«
Stimpekrex erbleichte, und vor meinen Augen tanzte in der Luft eine lustige Nummer l7.
»Mann,« zischelte der Leutnant den Beamten an, »was soll ich mir von Ihnen denken? was soll dieser Herr denken?« Hier flog die Tür auf und die Frau des Stationschefs trat hastig ein. Sie war sehr erregt und fing gleich an zu bitten und zu jammern, Exzellenz solle nur das sonderbare Benehmen ihres Mannes entschuldigen und beileibe keine Meldung machen; der gute Mann habe furchtbar die Influenza und phantasiere schon seit Mitternacht.
»Dann soll er zu Bett gehen, und der Assistent soll kommen,« sagte Stimpekrex barsch.
Die Frau fing an zu zittern.
»Exzellenz, – der – – der Assistent – hat – hat auch die Influenza.«
Ich machte auf dem Absatz rechtsum kehrt, und Exzellenz sank auf einen Stuhl.
»Hat auch die Influenza!« wiederholte er tonlos.
»Ja, – jawoll ja, – hat auch – hat auch die Influenza,« sagte der Stationschef gemütlich.
Die Frau fing an zu weinen, Herr von Stimpekrex erhob sich.
»Das ist stark, – das ist infam, – sowas in unserem Lande, – das muß ich selbstverständlich – – was sagen Sie zu der Sache, Herr Doktor?«
Ich brachte meine Gesichtsmuskeln in Ordnung, drehte mich um, zuckte die Achseln und sagte:
»Ich finde es gar nicht so sonderbar, daß beide Beamte erkrankt sind. Es ist eben gesetzlicher Winter!«
Herr von Stimpekrex sah mich mißtrauisch an.
»Frau,« sagte er, »besorgen sie einen Zug, wir wollen machen, daß wir hier fortkommen.«
In verhältnismäßig ganz kurzer Zeit fuhr ein sehr komfortabler Extrazug vor. Die Damen bestiegen den ersten, wir den zweiten Wagen, die Frau Vorsteher flötete »Abfahren«, und der Zug setzte sich in Bewegung, während oben im ersten Stock des Gebäudes der erkrankte Stationschef die Hand schelmisch salutierend an die Nachtmütze legte und mit begeisterter Stimme schrie:
»Extrazug! Extragesandter! Extrasilvester!«
Die Fahrt ins Märchenland
O, Ihr alle seid schon einmal ins Land der Märchen gefahren. Mutterwort, Grotzmutterraunen hat Eure junge Seele hinübergetragen, sowie der Frühlingswind ein rotes Wölkchen in den leuchtenden Himmel trägt; – oder Euer Seelchen ist auf dem weißen Papierschifflein gefahren, das den blumigen Bach hinabglitt, hinuntergefahren zum heimlichen Schilfteich im Walde, wo die Nixen schwimmen; – oder Ihr seid mit zögerndem Kinderfuß die knarrende Holzstiege hinaufgegangen auf den Boden des Hauses, wo in der staubigen Rumpelkammer die Geister tanzen, wenn der Mond durch die Dachluke scheint; – oder die Furcht hat Euch mitgenommen zu Riesen und bösen Waldweibern, wenn der Wintersturm an das kleine Fenster stieß, hinter dem Ihr schlafen solltet. – Seid Ihr nicht alle einmal gekleidet gewesen, wie die Prinzen; waret Ihr nicht alle einmal stark und mutig wie die Drachentöter; habt Ihr nicht alle einmal eine junge Königstochter oder einen stolzen Königssohn geheiratet! Und wenn Ihr einmal den Weg nicht recht wußtet, dann lag im Winkel ein buntes, zerrissenes Märchenbuch, in dem brauchtet Ihr nur zu blättern, und der Weg war Euch klar wie einem erfahrenen Reisenden, der Fahrplan und Reisebuch studiert hat.
So seid Ihr ins Land der Märchen gefahren. Mich altes, sehr altes Kind trägt kein Großmutterwort und kein Papierschifflein mehr, ich mußte mich in einen – Extrazug setzen, um ins Land der Wunder zurückzugelangen.
Eine Beobachtung erschreckte mich. Als ich um mich schaute, sah ich, daß mein Gepäck da war! – Ich hatte nichts mitgenommen, rein gar nichts, als ich mich zu der großen Reise aus dem Fenster schwang. Aber jetzt war es da, war mir durch einen Zauber nachgekommen. Ein grauer, lederner Koffer, eine schwarze Schachtel, ein kleines, rotes Paketchen.
O, ich brauchte keines der drei Stücke zu öffnen; ich wußte genau, was darin war: in dem Koffer meine Erkenntnisse, in der schwarzen Schachtel meine Leiden, in dem roten, kleinen Paketchen mein Glück von droben.
Die fuhren mit mir im Extrazug.
Während der ganzen Fahrt hatte Herr von Stimpekrex nicht erlaubt, daß ich aus dem Fenster schaue. Es sei lächerlich, meinte er, während der Nacht zum Fenster hinauszusehen. So lag ich lang auf ein bequemes Polster ausgestreckt und dachte darüber nach, wie komisch das doch in Herididasufoturanien sei, nicht ins helle Land hinaussehen zu dürfen, nur weil sich ein anderer einbildete, es sei Nacht. Aber ich dachte auch daran, daß mir droben im Menschenlande so manch einer vorgeredet hatte, weiß sei schwarz. Ich war oft gesund, wenn mir die anderen einredeten, ich sei krank; ich habe manch eine Sache gescheit angefangen, bis mir ein anderer sagte, ich sei auf dem falschen Wege, und ich habe oft zu lachen aufgehört, nur weil ein anderer behauptete, es sei eine schwere Zeit.
Auf den zwei großen Saiten, die übers weite Land gespannt sind, spielt der Eisenbahnzug sein einförmiges Schlummerlied; es ist ein hartes, eiliges Lied und läßt zu keinem ruhigen Traume kommen. Kein Traumlied, selten auch nur einen Wandergesang spielt der Zug auf seinen zwei Saiten; eine traurige Melodie spielt er den Flüchtigen, ein wildes, erregendes Lied singt er dem rastlosen Jäger nach dem Glück.
Kein Traumlied – aber ich war müde, schlief ein und schlief lange. Als mich mein Begleiter weckte, sagte er, der Tag sei nun angebrochen, und wir seien nahe am Ziel. Er habe inzwischen unsere Ankunft in der Hauptstadt des Landes angemeldet.
Ein blutrotes Licht füllte unseren Wagen.
»Was ist das für ein Licht?« fragte ich bestürzt.
Mein Begleiter wies lächelnd nach dem Fenster, Ich schaute hinaus, schloß aber heftig erschrocken die Augen und preßte beide Hände vors Gesicht.
Erst allmählich fand ich den Mut, das Wunder anzuschauen.
Auf einem blauen Felsenberge lag die goldene Stadt. Purpurglanz war über sie ausgegossen. Aus einem Vulkan jenseits des Berges loderten rote Feuergarben, der Himmel brannte, leuchtete in flüssigem Feuergold und ließ tausend glitzernde Funken in die Luft niederfallen, die leise erlöschten, wie fallende Sterne und wirbelnde, rote Blüten.
Ich sah die silbernen Mauern und goldenen Tore der