Das letzte Märchen. Paul Keller

Das letzte Märchen - Paul  Keller


Скачать книгу

      »Nun, eine Million Jahre! So alt ist er mindestens."

      »Doch nicht eine Million Erdenjahre?«

      »Sicher! Allerdings nach dem Julianischen Kalender gerechnet.«

      Ich bekam einen sanften Ohnmachtsanfall. Mein Freund sah mich ernst an.

      »Ja, wir sind nicht wie die Menschen, die schnell wachsen und aufblühen, aber noch schneller welken als die Bäume des Waldes, wir entwickeln uns langsam, aber wir dauern lange. Auch ich werde am nächsten l7. August schon 2467 und bin doch noch ein blutjunger Mann.«

      Wir standen in einer Fensternische. Ich sehnte mich nach dem Tuch der Hexe. Ein paar Fliegen spielten hinter uns am grünen Fensterglas.

      »Denke dir,« summte die eine, »Schnurr ist gestorben.«

      »Laß ihn gestorben sein,« brummte die andere, »er war ja schon 5½ Tag alt.«

      »Haben Sie gehört?« fragte Stimpekrex lächelnd. »Gegen diese Fliegen haben Sie Ihr Milliönchen auf dem Rücken. Und es sind doch auch Lebewesen.«

      Ein Gescheckter trat an mich heran, ein großer, kräftiger Mann mit einem stattlichen Vollbart. ,

      »Gestatten, daß ich mich vorstelle: Dr.Nein! M.d.R.«

      »Dr. Barragu, Chefredakteur!«

      »Geben Sie mir die Hand, Verehrtester! Ich freue mich, daß Sie da sind! Das hat Brust gekostet! Seit 279 Jahren habe ich in jeder Session des Reichsrats die Einführung einer Zeitung beantragt und bin 278 mal mit meinem Antrag durchgefallen. Das letztemal ist's geglückt. Hat aber Brust gekostet, Verehrtester! Ich allein habe einmal fünf Tage und sechs Nächte lang ohne Unterbrechung geredet.«

      Ein Schauer überrieselte mich. Dr. Rein rieb sich die Hände.

      »Es ist nämlich bei uns die famose Bestimmung getroffen, daß niemand den Sitzungssaal verlassen darf, solange die betreffende Sitzung dauert. Na, Sie können sich denken, was bei meiner Dauerrede passiert ist. Die Hälfte der Abgeordneten schlief, die andere Hälfte war ohnmächtig, der Präsident lag im Starrkrampf, und sämtliche Stenographen waren scheintot. Ich aber redete, redete ohne Ende. Zuletzt war nur noch ein einziger außer mir bei Besinnung, leider gerade der Finanzminister, mein wütendster Gegner. Der saß da, riß die Augen auf, aß Kaffeebohnen und stach sich von Zeit zu Zeit mit einer Nadel in die rückwärtigen Oberschenkel. Es war ein grausiger Kampf: ich als Redner, er als Zuhörer. Aber ich sage Ihnen, das Anstrengendere ist auf die Dauer doch das Zuhören. Nach fünf Tagen und sechs Nächten fiel auch dieser letzte mit Gedröhne bewußtlos unter den Tisch, und ich hatte gesiegt. Da sich niemand mehr zum Wort meldete, beantragte ich sofortige Abstimmung, weckte meine Parteigenossen, die um die Rednertribüne verstreut lagen, dazu noch so viel andere, als wir brauchen konnten; wir brachten mühsam den Vize-Präsidenten auf die Beine und stimmten ab. Mein Antrag wurde angenommen, glänzend angenommen. Die Einführung der Zeitung war beschlossen! Hat aber Brust gekostet, Verehrtester!«

      »Es muß eine anstrengende Sitzung gewesen sein,« sagte ich teilnahmsvoll.

      »O, ich sage Ihnen! Hinterher hat sich herausgestellt, daß acht Mann akut verrückt geworden sind, elf haben das Nervenfieber bekommen, und der Präsident ist heute noch nicht aufgewacht. Der arme Mann leidet an chronischer Schlafsucht. Mich selber hat's auch arg mitgenommen; ich habe gleich am selben Tage noch eine lebensgefährliche Brechruhr bekommen. Der Finanzminister, mein Zuhörer, übrigens auch! Wir haben dann zusammen eine gemeinschaftliche Erholungsreise gemacht und sind ja jetzt beide gottlob wiederhergestellt.«

      »Lieber Freund, Se. Hoheit Prinz Hamrigula wünscht Sie kennen zu lernen.«

      Stimpekrex war es, der also an mich herantrat. Dr. Neins Gesicht färbte sich bräunlich-grün.

      »Herr, Herr,« rief er, »gehen Sie nicht, lassen Sie's drauf ankommen, gehen Sie nicht! Dieser Prinz Hamrigula ist der gemeinste Schuft, der schauerlichste Volksverderber, der elendeste Kronräuber, der jemals unter der Erde gelebt hat. Er will Sie ausnützen, kapern, er weiß, daß die Presse –«

      Stimpekrex hatte mich bereits fortgezogen. In einer Fensternische stand Prinz Hamrigula. Er war jung, konnte nach meiner jetzigen Schätzung kaum 2000 Jahre alt sein, hatte aber jene kalten, berechnenden Augen, die bei Jünglingen immer fatal wirken.

      Ein Lächeln stahl sich um seine große Nase, während er mir in jener herablassenden Weise gewisser »vornehmer« leute entgegentrat, die mich immer mehr als Nichtswürdigkeit denn als Liebenswürdigkeit berührt hat.

      Er schielte, war überhaupt häßlich und machte einen unangenehmen Eindruck auf mich. Einen Märchenprinzen hatte ich mir anders vorgestellt. Ich konnte ein Unbehagen nicht unterdrücken, obwohl ich ausgesprochen häßlichen Personen gegenüber immer sehr vorsichtig mit mir selbst bin. Mein Schönheitssinn hat mir bei der Beurteilung von Leuten so oft die bösesten Streiche gespielt, daß ich sehr mißtrauisch gegen mich selber bin. Ich gab mir alle Mühe, sympathische Züge an dem häßlichen Prinzen zu entdecken, konstatierte, daß er einen festen, energischen Mund, eine wohlgebildete Stirn und lebhafte Augen habe, daß er offenbar ein kluger, willensstarker Mann sei und konnte doch meines Mißbehagens nicht Herr werden.

      Der Prinz erzählte mir in auffallend freundlichem Tone, daß er ein sehr naher Verwandter des regierenden Königs sei, aber viel zu leiden habe, da er von anderen Agnaten stark befehdet werde. Ich werde auch eine recht schwierige Stellung haben, könne mich aber ganz auf ihn verlassen, da ich ihm sehr sympathisch sei und er wohl sagen dürfe, daß er viel Einfluß habe.

      »Ja, sehen Sie, und gerade in meinem Bettchen! O, ein reizendes Kind! Und die anderen schrien, daß sie eine Dälle in ihrem Bettchen hätten – ähähähä, eine Dälle! Zum Lachen!«

      Das Zwerglein!

      Mit einer Verwünschung ergriff Prinz Hamrigula vor dem redseligen Alten die Flucht. Ich aber war dem rettenden Greise dankbar und ließ mir geduldig die Geschichte von dem vergifteten Kamm auseinandersetzen.

      Indes erregte eine neue Persönlichkeit meine Aufmerksamkeit. Ein Mann stand in meiner Nähe, auf dessen fabelhaft dünnen und gebogenen Beinchen ein dicker, ballonähnlicher Leib ängstlich hin — und herjonglierte. Die ganze Erscheinung hatte etwas peinlich Unästhetisches. Dazu dienerte das schnurrige Männlein, so oft ich es nur mit einem Blick streifte, und bei jeder solchen Verneigung ergriff mich eine Angst, die Bauchkugel werde von ihrem unsicheren Gestell herabfallen.

      »Alter Herr, können Sie mir nicht sagen, wer dieses Männlein ist, das immerfort dienert?«

      Der Jahresmillionär hob die blöden Augen und dachte einige Augenblicke nach; dann verfiel er wieder in sein blödes Lächeln und sagte:

      »Ja, freilich, den Händler mit dem vergifteten Kamm hatte natürlich auch die Königin geschickt.«

      Die Geduld ging mir aus; mit ein paar Worten des Abschieds wollte ich den Greis verlassen, da schoß plötzlich das dienernde Männlein auf mich zu, machte eine auffällig tiefe Verneigung vor mir und sagte:

      »Euer Gnaden wollen huldvollst meine große Aufdringlichkeit verzeihen, wenn ich –«

      »Mein Herr, ich glaube bestimmt, daß Sie mich verkennen,« unterbrach ich den überhöflichen Mann; »ich bin nichts weiter als der Chefredakteur der neu zu gründenden Zeitung.«

      »Und ich, Ew. Gnaden, ich bin der Theaterdirektor Krimskramski. Werden Ew. Gnaden die Güte haben, die Theaterreferate selbst zu schreiben oder –«

      »Erlauben Sie!«

      Ein dicker, aufgeblasener Mann schob das artige Direktorlein brutal beiseite und wandte sich hochmütig an mich.

      »Hab gehört, Sie sind der neue Zeitungsmensch!«

      »Chefredakteur Professor Doktor Barragu,« sagte ich mit scharfer Betonung. Der andere nickte und wickelte die schwere Uhrkette um seinen plebejisch fetten Daumen.

      »Jawohl, wollte mal fragen, wieviel Skonto Sie für Reklamen bei Barzahlung geben.«

      »Zunächst bitte:


Скачать книгу