J’accuse. Brausewetter Max

J’accuse - Brausewetter Max


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so müssen die Gefangenen in der Bastille miteinander gesprochen haben, und es erinnert mich an die Darstellung von Hanneles Himmelfahrt im Schauspielhause, als beim toten Hannele die Leidtragenden vorüberdefilieren und sich ihre Beobachtungen mit Grabesstimme zuraunen. Die Sonne stieg höher und noch öffneten sich die Kerkertore nicht. So machten wir uns schnellere Bewegung, wie die Engländer auf dem Schiffsdeck, und die Szene wurde lebhafter. Wir konnten durchaus Anspruch darauf machen, mit den Gefangenen damaliger Zeit verglichen zu werden, denn unsere Gesellschaft war recht bunt zusammengesetzt und bestand zum großen Teil aus Geistlichen und Gelehrten. Wir zählten 10 geistliche Herren und 12 des Gelehrtenstandes unter 72. Außerdem Kaufleute, Farmer, gewesene Offiziere usw. Gleiches Leid führt leicht zusammen, und so begannen wir, uns einander zu nähern und die ersten Meinungen über das Schicksal auszutauschen, das uns bevorstand. Da stießen wunderbare Optimisten gegen ebenso gewaltige Pessimisten. Von der Freilassung heute, morgen, ging es sprungweise zum Kriegsgericht, zur Füsillade. Im Grunde konnte jeder recht haben, und das sollten wir später mehr und mehr einsehen, vielleicht gerade der, welcher am wenigsten logisch deduzierte, denn wir waren von heute an Gefangene im großen Frankreich, dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Ueber Denken und Erwägen richtet die Metze Fortuna. – Von 5 Uhr morgens bis 10 Uhr ist eine lange Zeit für den, welcher es nicht gewohnt ist, mit der Sonne sich zu erheben, und so schienen die Stunden unendlich langsam zu vergehen.

      Um 10 Uhr begann unser Sträflingsleben. Wir wurden etwa eingekleidet, der Arzt erschien, ein freundlicher, grauer Herr, der nach geruhigem Familienleben und behaglichen Mahlzeiten aussah. Der Uniformrock stand ihm schlecht. Er trat uns mit Worten wohlwollend entgegen, sonst ging er weder im positiven noch im negativen Sinne über den Nullpunkt hinaus. Die ausgestreckte Zunge wurde meist recht gut befunden und blieb maßgebend für Lungen-, Leber-, Nieren- oder sonstige Leiden. Darüber hinaus erstreckte sich die Untersuchungskunst nicht, und nachdem er unsere Zuchthausfähigkeit im allgemeinen festgestellt hatte, enteilte der Brave froh getröstet zum heimischen Frühstück. Eine Ahnung sagte uns, daß wir doch wohl länger als die Optimisten hofften, beieinander bleiben dürften, und wir beschlossen, uns zu organisieren, um allen an uns herantretenden Fragen einig entgegentreten zu können. Und das war gut, es hat uns in Château d’If eine relativ selbständige Stellung gegeben, die wir später nie mehr gekannt haben. Auf den Vorschlag der Patres wurde ich zum Präsidenten gewählt und auf meinen Vorschlag die Herren Dr. theol. Franz Beyer, der Grazer Kanzelredner, und Leutnant a. D. Kurt Schmidt aus Las Palmas als Beisitzer. Als unser Dolmetscher wurde Herr Peter Klein aus Saarburg-Lothringen gewählt, ein Herr, der aus französischer Abstammung im Herzen französisch war, dem aber meine Gefährten und ich das Zeugnis ausstellen können, daß er, solange er an unserer Seite wirkte, uns ein treuer und ehrlicher Kamerad gewesen ist. Ich betone das schon hier, weil er leider zu den ganz wenigen Ausnahmen in unseren schweren Erfahrungen gehört, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben. Und da ich von lobenswerten Ausnahmen spreche und unsere Leidenszeit daran so jämmerlich arm war, so will ich gleich hier unseres aufsichtführenden Sergeanten gedenken. Er war ein Mann aus einfachem Stande, von ehrlicher und vornehmer Denkungsart, von ernstem Wohlwollen gegen uns, die wir ihm unterstellt waren. Wir haben ihn als einzigen Vorgesetzten kennengelernt, den wir voll und ganz achten konnten. Ganz besonders hoch sei es ihm angerechnet, daß er deutsche Patrioten höher schätzte als deutsche Verräter und demgemäß handelte. Er ist der einzige dieser Kategorie geblieben. – Wir hatten Muße genug, unser Gefängnis von außen und innen zu betrachten, da wir zwei Stunden auf dem Platze spazierengehen durften, wo wir zugleich unsere erste Atzung: Kohlsuppe, Brot und ein Stück Wurst, erhielten. Der Hunger suggerierte uns ein köstliches Mahl, und wir äußerten uns gegenseitig sehr befriedigt über die schmackhafte Kohlsuppe. Dann ging’s in geordnetem Zuge zurück über die Brücke, zu zwei und zwei geordnet, um besser gezählt zu werden, was selten beim ersten Male ganz gelang. Die Pforte schloß sich knarrend hinter uns, und als ich sie sinnend von innen betrachtete, fiel mir zum ersten Male die große Inschrift auf dem Torbogen auf: Hotel du peuple souverain. Nun wußte ich, wo ich geborgen war. Nichts ist mir im Leben so zuwider gewesen, wie der souveräne Pöbel, von dessen Herrschaft Château d’If so prächtig Zeugnis ablegt. Dessen Zwangsgast also war ich geworden. – Wenden wir uns vom Eingang nach rechts, so stoßen wir auf ein großes Tor, welches in einen weiten und wüsten Raum führt, der uns einen geradezu unheimlichen Eindruck machte. Die Wände waren feucht und modrig, Gestank erfüllte die Luft, der Fußboden bestand aus trockenem und feuchtem Lehm, Staub, Abfällen von Lumpen und Kot. Dieser Raum erschien uns, so sehr wir unsere Ansprüche auf das Mindestmaß herabgesetzt hatten, kaum für Hunde bewohnbar.

      Dieses Gefängnis sollte in kurzem Grund zu einer tragikomischen Szene geben, und Grauen sollte ihm folgen. Der innere Längsraum verlängerte sich noch zu einem Querraum, dieser stieß – verbunden durch eine Tür – an den durch Dumas berühmt gewordenen Danteschen Kerker.

      Ob Dumas aus reiner Phantasie geschöpft hat, weiß ich nicht, einiges scheint wahr zu sein, oder wird heute noch geglaubt. Die Verbindung zwischen dem Kerker Edmond Dantes, des künftigen Grafen von Monte Christo, und dem des Abbé Faria durch ein ziemlich bedeutendes Mauerloch besteht noch. Wir haben sie des öfteren und genau beleuchtet. Fürwahr, genug Elend ist geschichtlich wie sagenhaft in den wenigen Räumen aufgespeichert, und man darf sich nicht wundern, wenn unseren erregten Sinnen sich manche der bleichen Gestalten belebten. Wußten wir, was Frankreich mit uns vorhatte?

      Aber der obere Raum bietet der Phantasie noch größeren Spielraum, und der war uns vorläufig als Wohnraum bestimmt. Eine Treppe führt vom unteren Brunnenhof auf die obere Galerie, welche die dort befindlichen Kerkerräume verbindet. Wenden wir uns von der Treppe gleich nach links, so kommen wir zum Kerker des Abbé Peretti, welches nun unseren Priestern Wohnung bieten sollte.

      Dann folgte das Zimmer der eisernen Maske, die wieder Dumas zu einem Roman gereizt hat. Die Inschrift des Nebenraumes lautet: Kerker Louis Philipps von Orleans, genannt Philipp Egalité! Dann kam die Zelle, die mir für die nächste Zeit Herberge gewähren sollte, und die wenigstens insofern bevorzugt war, als in sie, wie die Inschrift besagte, ein Glücklicher seinen Einzug gehalten hatte: In diesem Raum wurde der einbalsamierte Leichnam des Generals Kleber nach seiner Ueberführung aus Aegypten im Jahre 1806 aufgebahrt. Die Beisetzungsfeierlichkeiten haben in seiner Vaterstadt Straßburg stattgefunden. Es war das einer der angenehmsten Räume. Ein weiteres Zimmer war der Kerker des Verräters Prinzen Casimir, Bruder des Königs von Polen, Ladislaus XVII., der sich gegen Frankreich mit den Spaniern verbündete. Mir ist das Zimmer des Verräters später das behaglichste geworden, das ich in Château d’If fand, soweit von Behaglichkeit auch nur annähernd die Rede sein kann. Dem folgten die finsteren und geheimnisvolleren Räume. Es blieb noch ein letzter trostloser Raum, oder vielmehr waren es ihrer zwei, klein, abgeschlossen von allem, was Leben in dieser Ruine heißen durfte. Einer stockfinster, der andere, daran grenzend, halbfinster. Es knüpft sich auch an diesen Raum eine humoristische Erinnerung. Als wir aus unseren Zellen einige Wochen nach unserer ersten Besitznahme vertrieben waren, suchten Schmidt, Moritz, Bonitz und ich einen Raum, wo wir uns vor der Unmenge von Ungeziefer und Unrat wehren konnten, und fanden endlich diesen. Wir waren schon glücklich, ihn gemeinsam und eng geschlossen bewohnen zu dürfen, nachdem wir die nötigsten Ausbesserungen selber besorgt hatten, und baten unseren braven Sergeanten Bonel um die Erlaubnis, ihn uns anzuweisen, die er aber streng verweigerte, wohl weil höherer Befehl ihm verboten hatte, so kostbare Wohnräume an uns abzugeben. Um unsere Bescheidenheit zu beweisen, bringe ich hier die Inschrift, die über diesen beiden Dunkelräumen prangte, die uns so begehrenswert erschienen: Gefängnis der zum Tode Verurteilten. Der brave Sergeant hatte auch Humor bewahrt, denn gleich darauf überließ er uns das immerhin bessere Casimirgefängnis. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf zum Mauggouvertturm mit flachem Dache, der einen wunderbaren Ausblick auf Marseille, Frioul und das offene Meer bot, leider aber die unangenehme Eigenschaft hatte, daß die köstlich reine Meerluft durch Abortdünste stark gefälscht wurde. Oben befand sich noch ein großer runder geschlossener Kuppelraum, in dem später neue Gefangene einquartiert wurden. Unten im Erdgeschoß war der große Ziehbrunnen, welcher uns hygienisch noch viel zu schaffen machen sollte. Weiter bot das Château noch drei große Räume, welche nicht von der Hauptpforte zugängig waren und eigene Türen nach draußen hatten: Es waren das zwei beiderseits gleichliegende und gleich große Kuppelräume im Erdgeschoß, deren einer uns bald als Hospital diente und ein dritter, der Donjon, in welchem die Hinrichtungen


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