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Neugier überwog, und auch wir lauschten schließlich dem krausen Zeug, das der Ankömmling, sich überstürzend, im Anblick der erstaunten gläubigen Gemeinde vortrug. Mir ist nicht alles im Gedächtnis geblieben; aber wenn ich es heute rekapitulieren soll, war es etwa so: Die Russen waren in Eilmärschen bis dicht vor Danzig gelangt (da wohnt mein Bruder), nachdem sie Königsberg (da habe ich viele Onkel und Tanten) in zwei Tagen erledigt hatten, wurden von der russischen Flotte in der Zerstörung Danzigs unterstützt (armer Artur!), die inzwischen wohl schon Faktum geworden sei. Die Deutschen waren vor Paris (also doch!). Stettin wurde beschossen (da wohnt meine Mutter). Der Kurs der Mark war zu 60 für Franken usw. Er, der Träger dieser Nachrichten, war auf irgendeinem Ueberseeschiffe mit Franzosen zusammen gereist, hatte sich für deutschen Deserteur ausgegeben und sei gezwungen worden, die Marseillaise zu singen. Er unterrichtete uns schnell und legendär. Bald ging ein Raunen durch unsere Reihen, hier lauert Verrat! Wer ist der gesprächige Jüngling, und welchen Zweck verfolgt er? Und immer lauter wird die Frage: Gebet acht! – Und man gab acht, und es offenbarte sich immer mehr, was wir längst erwartet: Der Ankömmling, der so fürstlich ausgestattet zu uns kam, der in Marseille allein in einem Hotel gewohnt hatte, war ein von der französischen Regierung für uns bestellter Spitzel! Nun war es heraus und nicht mehr zu bannen. – Die Nervosität trieb wunderliche Blüten, und das mehrte sich, als er sich mir vorstellte, mich fragte, ob ich Arzt sei, und ob ich so freundlich sein wollte, ihn zu untersuchen, da er an einem schlimmen Fuße litte. Ich tat das auch ganz ruhig und stellte eine allgemeine Schlaffheit der Gelenkbänder fest. Damals stieg in mir noch nicht der fürchterliche Verdacht auf wie in den anderen. Bald wurde ich meines Leichtsinns wegen gescholten und schwer gewarnt: Durch die Kantinenwirtin, die es einem andern unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, war es herausgekommen, daß die französische Regierung auf einen aktiven deutschen General mit falschem Paß fahnde, und der befände sich in unseren Reihen. Auf zwei fiel der stärkste Verdacht, auf Moritz und mich. Bei Moritz war die Feststellung nicht so einfach. Wenn auch sein Aussehen durchaus dem eines Generals entsprach, so war es doch schwer, ihm Gespräche zu entlocken, die ihn bloßstellten. Bei mir war es schon leichter; ich war nicht so vorsichtig und hatte mich außerdem als Arzt ausgegeben, und es brauchte nur festgestellt zu werden, ob ich wirklich Arzt sei. Daher die Konsultation. So kam etwas Spannendes in die Oede des Alltags, und die scharfen Beobachtungen, die wir dem Jüngling von nun an gönnten, wirkten als Nervenreiz. Ich hielt mich ganz frei von der allgemeinen Spitzelkrankheit, und alle Warnungen, auch die ängstlichsten, prallten ab. Schmidt und ich sahen uns den Herrn im Gegenteil zuerst von der nüchternen, praktischen Seite an und entlockten ihm für die allgemeine Kasse nicht nur reichlichen Beitrag, sondern auch Zigaretten usw., die wir zum allgemeinen Besten verauktionierten. Aber die Gespensterfurcht war nicht mehr zu bannen. Einen Moment ergriff mich selber der Wahn, als ich sah, wie sich der eine Kommissär dem Herrn näherte und ihm zuflüsterte: „Nun, sind Sie gut untergekommen?“ Auf meine Frage an Herrn S. erklärte dieser, daß er den Kommissär von früher her kenne. Das war wohl möglich und einfach. Das Einfachste aber glaubten wir natürlich am wenigsten. So wurde der Arme längere Zeit ängstlich gemieden, bis sich der Bann löste.
Er hat unsere Gefangenschaft redlich geteilt, und da er durch die Kenntnis der französischen Sprache oft zum Vermittler gewählt wurde, so bot sich ihm auch Gelegenheit, sich den Gefangenen nützlich zu erweisen; und die hat er ergriffen und sich immer unzweideutig auf unsere Seite gestellt, was man leider nicht von allen sagen konnte, die des Französischen mächtig waren.
Das gute Klima und der Ueberschuß an Gesundheit, den wir alle mitbrachten, verhinderte noch damals das Auftreten von Epidemien, wie sie bald in Frioul und später in besonderer Schärfe in Casabianda uns bedrohten. Immerhin gab es Kranke genug. Dr. Heller und ich teilten uns in die Behandlung. Die französischen Aerzte taten nichts für uns. Von dem einen habe ich schon gesprochen; der andere war ein ganz schneidiger Bursche. Um seine tiefwissenschaftliche Art zu kennzeichnen, will ich kurz von seiner ärztlichen Tätigkeit berichten. Die erste Meinung, welche der Menschenfreund äußerte, war, die Brunnen sollten geschlossen werden. Er hielt den Ausschank von Wasser an die „boches“ durchaus für Luxus. Dann schlug er einem im Vorübergehen die Mütze vom Kopf, sagte einem anderen, welcher um die Bewilligung von Decken für die Gefangenen bat, daß Decken für solche Banditen überflüssig seien. Er fand das Essen als Völlerei und schritt nach solchen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung. Wie immer gab es einige Harmlose, die ihn wirklich konsultierten. Den ersten, einen alten Herrn mit Blasenkatarrh, fuhr er an: „Sie sind ein Schwein“; dann ertönte sein Kommando: Die Zunge herausstrecken! Aus dem Befund diagnostizierte er mit tödlicher Sicherheit, daß ein Blasenleiden nicht vorliege. Von nun an nahm er sich nicht so ausgedehnte Zeit zu weiterer Untersuchung. Die Patienten mußten schon mit ausgestreckter Zunge herantreten, und da diese meist reinlich war und keine Zeichen von Ueberfütterung des Magens aufwies, so trieb er schnell seine Opfer davon und strich sie aus den Listen der Kranken. Damals stand noch nicht Gefängnis auf solcher Krankmeldung, wie später; aber verdient hätten sie es. So schlug der Herr im Gebiete der Schnelluntersuchung wohl den äußersten Rekord. Ich sah dem tüchtigen Kollegen von der Galerie aus bewundernd zu, und als ich mich auf einen Augenblick in das Zimmer verfügte und wieder heraustrat, war die Diagnose bei zwölf Kranken gestellt. Zu einigen Krätzekranken sagte er: „Ihr seid Wilhelms Söhne!“ Ich habe unter den französischen Aerzten in unserem Lager die besten und die schlechtesten kennengelernt; auch ein Ungeheuer war unter ihnen, dem ich später noch ganze Kapitel widmen muß und das die französische Regierung gern zu den Geisteskranken geworfen hätte. Als später noch Dr. Vosselmann in unser Lager kam, traten wir zu dritt in die Organisation der Krankenbehandlung ein. Sergeant Bonel hatte uns drei Aerzten das Casimirzimmer eingeräumt und den größeren, etwas dunklen Kuppelraum außerhalb des Gefängnisses als Hospital sowie einen kleinen Schuppen am Meere als Infektionsstation übergeben. Das war sehr dankenswert von unserem braven Sergeanten, und da er uns Aerzten noch laissez-passer ausstellte, die Erlaubnis, uns zu jeder Zeit frei auf der Insel zu bewegen, so wurde unsere Lage recht erträglich. Ich bin in den letzten Besprechungen schon der Zeit vorausgeeilt und wende mich zurück zum Tage neuer Einquartierung.
Am 10. September erfuhren wir, daß wir am Abend den Einzug von 130 neuen Gästen zu erwarten hätten. Wir sahen Kommissäre und Offiziere geschäftig hin und her wandern, alle Räume durchstöbern, um zu erkunden, wo ihre Unterbringung möglich wäre. Selbst das Prison des condamnés politiques wurde einer eingehenden, langdauernden Untersuchung unterzogen. Ich habe dieses im Anfang des genaueren geschildert. Kot und Abfälle lagen dort herum; der Raum war dunkel und stank nach Urin und verschimmelten und verdorrten Kadaverteilen. Der Boden war aufgewühlt, staubig, lehmig; jede Berührung des Bodens trieb den bazillengeschwängerten Staub in die Höhe. Daß dort Menschen untergebracht werden sollten, war ja ganz undenkbar. Ein Schweinestall, der monatelang nicht ausgemistet war, erschien palastartig gegen diesen Raum.
Nachmittags hielten wir auf der Galerie Versammlung ab über eventuelle Maßnahmen für den Empfang der neuen Ankömmlinge. Und nun ereignete sich etwas, was in seiner Tragikomik allen unvergeßlich bleiben wird. Es trat als Redner auf Herr Julius Meyer, welcher auch sonst zündend und reichlich lange zu sprechen pflegte. Dieser setzte uns in bewegten Worten auseinander, daß aus den Besichtigungen der unteren Räume, die nun einige Tage hintereinander sich wiederholt hätten, erleuchte, daß diese Räume den Erwarteten als Unterkunft angewiesen werden sollten. Im Namen der Humanität wende er sich gegen die Möglichkeit solcher Maßnahmen. Die Aerzte müßten zugeben, daß ein Wohnen in solchen Räumen Todesgefahr berge (wir gaben das unbedingt zu); im Namen der Humanität fordere er von den beiden Aerzten, daß sie sofort vorstellig würden, dergleichen Ungeheuerlichkeiten zu vermeiden. Im Namen der Humanität fordere er von uns allen, daß wir zusammenstehen, und im Falle, daß die französische Regierung wirklich derart Gefangene unterbringen wollte, auch zusammenrückten und die armen Opfer in unseren Zimmern aufnähmen, und ob wir gleich wie die Heringe zusammengepreßt würden. Im Namen der Humanität. Dixi!
Die Rede war schwung- und wirkungsvoll und verfehlte nicht tiefsten Eindruck. Armer Julius Meyer! Es kommt manchmal so ganz anders, und das Tragische liegt so nahe beim Komischen. Die Wirkung, die die Rede gehabt und die sicher die Bewilligung der geforderten Opfer zur Folge gehabt hätte, wurde zunichte durch den lakonischen Befehl, welcher von draußen zu uns drang: Sämtliche Deutsche haben sofort die oberen Zimmer