J’accuse. Brausewetter Max

J’accuse - Brausewetter Max


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Lage sich in dieser Beziehung von Tag zu Tag besserte, so war doch unsere Ernährung ganz minderwertig und entsprach nicht im entferntesten dem, was wir gewohnt waren. Wir litten bald durch eine Unterernährung beträchtlich, die wir im Anfang für gering achteten, als unser Körper noch genug Widerstand bot. Wir Sisterleute waren zum größten Teil aus gesellschaftlichen Klassen, die an ein gewisses Wohlleben, und sei es in einfachsten Grenzen, gewöhnt waren. Was uns jetzt geboten war, stand in Quantität und Qualität weit unter dem, was der Körper forderte. Der täglichen Kohlsuppe wurden wir zum Speien überdrüssig, und als Zugabe immer ein Stück fetter und harter Knoblauchwurst verbesserte die Verdauung nicht. Ich fing bald an, meine Kameraden auf das eindringlichste zu warnen, ja nicht einer gewissen heroischen Energie das Wort zu sprechen, sondern sich klarzumachen, wie wichtig die Pflege des Leibes sei, und wie schwere Folgen eine Vernachlässigung haben könnte. Daß ich recht hatte, erwies sich später. So mußten wir uns Extrasachen kaufen. Zuerst den Morgenkaffee, den wir nicht geliefert bekamen, dann anderes. Aber auch mit dem Kaufen war es eine eigene Sache: wir waren von der Seite unserer Familie gerissen und hatten denen von dem knappen Gelde, das wir meist auf der Heimreise bei uns führten, geben müssen. So war unsere Barschaft gering, außer bei einigen wenigen, und wir wußten nicht, woher Geld nehmen. Es war vor allem das „Wie“ des Geldsendens, welches uns Sorge machte; dazu kam, daß kaum einer Franken bei sich führte, sondern Lire, Pesetas und Mark. Wie wechseln auf dieser Insel und bei wem? Freilich boten sich bald genug Gemütsmenschen an, die dieses Geschäft aus lauter Menschenfreundlichkeit auf sich nahmen; aber die Augen gingen uns über bei solchem Tausch, zu dem wir bald gezwungen waren.

      Also unser offizielles Essen, bestand morgens um 10 Uhr aus Suppe und Brot, dazu ein Stück Wurst oder Käse, abends 4½ Uhr Suppe; das war alles. Jeden zweiten Tag ein Stückchen Fleisch dazu. Die Suppe war, wie gesagt, fast immer eine reichlich wässerige Kohlsuppe, ohne anderen Inhalt; Bohnen oder Linsen gab es nicht oft. Einer solchen Leibespflege waren wir nicht gewachsen. Nun hält der Mensch viel aus, aber nicht auf die Dauer, und wenn wir noch anfangs uns aufrechterhielten, das blieb nicht lange so. Wir mußten Wandel schaffen, und damit begann unsere Organisation. Dieses unselige System, die Verpflegung der Gefangenen an den Meistbietenden zu vermieten, wie das in Château d’If und in Frioul geschehen war, muß natürlich zum Nachteil der Gefangenen ausschlagen. Wir wurden vom Unternehmer schamlos ausgehungert und konnten ihm nachrechnen, daß er für die Beköstigung des einzelnen – der für 8 °Cts. Nahrung zu fordern hatte – höchstens die Hälfte bezahlte. Was half es uns, wenn auf dauernde Beschwerden, deren Berechtigung eine Nachprüfung ergab, der erste seines Amtes entsetzt und ein zweiter eingesetzt wurde? Zwei Tage ging es, und dann war es gerade wie vorher. Wir wandten uns also an unseren ersten Retter in der Not, eine Frau, welche die Kantine unter sich hatte, eine dicke, rundliche, freundliche und tüchtige Frau, welche mit gewisser Gutmütigkeit von nun an für uns sorgte, nie ohne reichlichen Gewinn (Wein mit 100 Proz. Aufschlag mindestens), aber doch zu unserer Zufriedenheit. Wir sind später weit mehr und in weniger freundlicher Art geschröpft worden. Die gute Frau hatte auch einige, die sie besonders bevorzugte, zu denen ich mich rechnete. Sie gab mir stets den Ehrentitel „monsieur le président“, und es gelang mir bald, in meinem kümmerlichsten Französisch mich mit ihr zu verständigen. So richteten wir denn ein tägliches Extragericht ein, das etwa 30–4 °Cts. pro Teller kostete und auf Vorbestellung hin ausgehändigt wurde. Es handelte sich um einfache und nahrhafte Gerichte, und da die Frau außerdem für gute Schinkenstullen, Käse und Eier sorgte, so war der augenblicklichen Not einigermaßen gesteuert. Leider waren unter uns einige, die die Not zwang, sich alle Extrakost zu versagen. Denen zu helfen, fanden wir allmählich Wege. Schlimmer bestellt war es um andere, welche ihrer Widerstandsfähigkeit zu viel zutrauten, denen war nicht zu helfen. Aber die meisten kehrten bald von selber geängstigt um, bei zweien war es zu spät gewesen.

      Da die Geldfrage prekär war, so wurde es auch den meisten unmöglich gemacht, sich ein einigermaßen annehmbares Lager zu verschaffen. Geliefert wurden uns nur Strohmatratzen, und zwar in unserem Zimmer 4 für 11 Mann. Sie wurden zusammengelegt, und nun hatte jeder selber dafür zu sorgen, daß er sich zwischen eng zusammengekeilte menschliche Körper einzwängte. In unserem Zimmer – man verzeihe es einer kindlichen Gewohnheit aus früheren Zeiten, wenn ich Räume, die uns zwangsweise als Wohn- und Schlafräume zugewiesen wurden, euphemistisch mit dem Worte Zimmer bezeichne, derlei sprachliche Ungezogenheiten laufen dem Neuling so leicht durch, der sich noch nicht zum Verbrecherjargon durchgearbeitet hat – also in unserem Zimmer gab es einige Begüterte, welche sich den Luxus eigener Matratzen schon in den ersten Tagen gönnten. Dadurch wurde uns anderen der relative Luxus zuteil, daß wir das übriggebliebene Material in Anspruch nehmen und uns zu zweit auf einer Matratze breitmachen durften. Decken, Kissen usw. erhielten wir als durchaus entbehrlich nicht und suchten aus den Koffern vorerst das notwendige Ersatzmaterial. Mein Freund Bonitz aus Málaga und ich einigten uns nun zu ständigem gemeinsamen Besitze einer Matratze, die wir später, als unsere Finanzen stiegen, durch eine ganz neue eigene ersetzten. Auf dieser einen Matratze haben wir beide fünf Monate lang geschlafen und uns so aneinandergewöhnt, daß wir eine körperliche Beschränkung kaum mehr empfanden. Ich entsinne mich nicht eines Streites, den wir wegen Raummangels gehabt hätten. Wir waren bescheiden geworden, und andere Sorgen quälten uns weit einschneidender bald so schwer, daß Bequemlichkeit nicht mehr gegen seelische Leiden in Frage trat. Unsere Unterkunft entsprach auch sonst nicht dem „Ganz-wie-zu-Hause“, das merkten wir an den von nun an ständigen Begleitern, die in veränderter Gestalt grimmige Gewalt übten, und die wir schon nicht mehr entbehrten, wenn sie gleich kalt und frech uns selbst verhöhnten. Hier in Château d’If traten sie vorwiegend in Gestalt der Skorpione und Flöhe auf. Die letzteren behandelten wir von Anfang an mit souveräner Verachtung, den ersteren hatten wir mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, etwa täglich wurde Jagd auf sie gemacht und täglich einige Exemplare gefunden. Sie dienten auch zur Beschäftigung der schwindligen Gemüter. Wie oft haben wir sie zu dem sagenhaften Skorpionenselbstmord in Feuerumzingelung treiben wollen. Gelungen ist es uns nie. – Von uns hat auch keiner Selbstmord begangen! —

      So verteilten wir mit dem Sergeanten Bonel die verschiedenen Räume. Er überließ uns derartige Bestimmungen bald allein, da er sah, daß unsere Selbstverwaltung sehr gut funktionierte. Der zweite Punkt, auf den wir unser Augenmerk richteten, war die Hygiene des Körpers. Zuerst die Wasserfrage. Ein tiefer Ziehbrunnen stand in der Mitte des Kastellhofes. Es wurde uns zwar von dem Arzt versichert, das Wasser sei gut, aber wir sind doch recht vorsichtig damit gewesen, besonders, da uns einmal der furchtbare Verdacht aufstieg, der sich glücklicherweise als grundlos herausstellte, die Bedürfnisanstalten des oberen Stockes hätten in ihrem Abfluß auch einen Weg zum Brunnen gefunden. Um aber einer Verunreinigung des Brunnens durch falschen Gebrauch vorzubeugen, wurden strenge Weisungen gegeben, und eine Wache hatte den Wasserausschank nach ärztlicher Verordnung zu überwachen. So entstanden die ersten Gesetze in unserer Republik Château d’If, auf die ich sämtliche Mitgefangene durch Handschlag feierlich verpflichtete.

      Da alles im Leben Geld kostet, auch Reinlichkeit und Ordnung, und da kein Staat ohne Finanzen regiert werden kann, so wurde eine Sammlung veranstaltet, die über 100 Fr. ergab, und Schmidt stieg auf zum Finanzminister. Das Geld hat sich stetig durch neue Spenden vermehrt und ist später sehr segensreich geworden. Die Körperreinlichkeit wurde dadurch ermöglicht, daß das Waschen im Freien und in Gruppen zu sechs Mann eingerichtet wurde. Die Erlaubnis zum Baden im Meere bekamen wir leider damals nicht. Ein anderes Erfordernis trat an uns, die Gedanken aus dem täglich sich mehrenden Elend auf etwas Besseres abzulenken. So begannen wir, uns abends auf der Galerie zu vereinen, sangen zuerst einige Volkslieder und hielten bald auch Vorträge. Einer der eifrigsten Förderer solcher Bestrebungen war Dr. Beyer, der mit seiner klangvollen Stimme uns Loewesche Balladen und Arien oft weihevoll vortrug. Er hat auch später durch seine Predigten und Ansprachen sich große Verdienste um uns erworben, und manch einen, auch mich, verband bald eine herzliche Freundschaft mit ihm, die, so schwerer Leidenszeit entsprungen, hoffentlich desto fester hält. Ich werde den tief sentimentalen Eindruck nicht vergessen, den solche Abende auf uns machten. Es war die Zeit des Vollmondes, und wenn der in das kahle Gemäuer unheimlich strahlte, und wir Gefangenen unter französischen Bajonetten mit halb unterdrückter Stimme heimatliche Lieder sangen, so trieb die Wehmut manch einem von uns die Tränen in die Augen. Ich habe nie in so stimmungsvoller Umgebung Bürgers „Leonore“ und Goethes „Totentanz“ vorgetragen, und eigenartig paßte


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