Die Mühle zu Husterloh. Adam Karrillon
zahlst du, wenn ich dich mitnehme, mein Goliath, du Riesenkerl, du?«
»Einen Groschen und vielleicht noch etwas darüber.«
»Sitz auf,« ermunterte der Fuhrmann und musterte Hansens Pakete mit neugierigen Blicken. Der Knabe kroch gewandt wie eine Katze von hinten auf den Wagen und machte es sich auf dem Futtersack bequem.
»Kaust du auch, Dreikäsehoch?« fragte nach einiger Zeit bedächtigen Nachdenkens der Fuhrmann, der kein Auge von den beiden Paketen verwendet hatte.
»Ja,« sagte Hans, »alles, was ich ungekaut nicht schlucken kann.«
»So war’s nicht gemeint, mein Tausendsassa, aber du rauchst doch?«
»Nein!«
»So hast du es doch wohl gern, wenn andere rauchen und dir ein wenig den Duft unter die Nase blasen?«
Hans bemerkte, dass er dagegen nichts einzuwenden habe. Nun griff der Fuhrmann zutraulich nach dem einen der Pakete und riss das graue Katzenpapier herunter. Als er aber nicht fand, was er erwartet hatte, schob er enttäuscht seine Schirmkappe ins Genick, fasste den armen Jungen erbarmungslos am Kragen, hob ihn über den Leiterbaum und ließ ihn fallen. Im nächsten Augenblick bereits lag der fahrende Scholar in der sehr schätzenswerten Gesellschaft des großen Georges auf der Straße. Der Fuhrmann fuhr weiter, verärgert und gekränkt darüber, dass hinter einem so kleinen Knirpse und seinem Bündel so viel Lug und Trug verborgen sein könne.
Hans erhob sich und suchte seine Kleider und den großen Georges, der beschmutzt und übel zugerichtet war, wieder zu restaurieren. Er dachte an den Pfarrherrn, der ihm dies Liebespfand anvertraut hatte, und mitleidig an die noch ungeborenen Generationen, denen es auf der sozialen Leiter in die Höhe helfen sollte. Ihm hatte es seither wenig gedient. Eine Zigarrenkiste mit dem minderwertigsten Inhalt hätte ihn sicher weiter gebracht, wie all die papierne Weisheit. Noch war der Wanderer kaum eine Stunde aus dem Elternhaus, und bereits war er mit den Realitäten des Lebens arg aneinander geraten. Er war traurig, aber ein wilder Trotz erwachte in seiner Kinderseele. Er wollte den Kampf aufnehmen, und wenn er zermalmt werden sollte.
Resolut warf er den Riemen, an dem der große Georges baumelte, über seine Schulter und folgte, der Chaussee mit ihren unfreundlichen Gesellen ausweichend, einem kleinen Seitenpfade, der ihn durch Waldesschatten in ein quellendurchrauschtes Wiesental führte. Buchen wechselten mit Wallnüssen und der Pfad mit einem tiefgeleisigen Feldweg, der die weit im Tale verstreuten Bauernhöfe aufsuchte und bald auf-, bald abstieg. Die Leute sah man in den Feldern hinterm Pflug oder in den Wiesen hinter dem Wetterleuchten der geschwungenen Sensen. Die Höfe schienen leer, den Hühnern überlassen, die fleißig im Miste scharrten, und der Wachsamkeit der Hofhunde. Einer nach dem anderen dieser zottigen Wächter kam dem Knaben vorsichtig näher, beschnupperte misstrauisch den großen Georges und warf im Fortgehen mit den Hinterpfoten etwas Schmutz nach dem Lexikon und seinem Träger. So feierlich dieser Vorgang an sich war, so wurde er durch die öftere Wiederholung dem Reisenden doch schließlich langweilig, und als eben gerade ein struppiger Bullenbeißer die Zeremonie vollzog, hob er seinerseits das Bein auf, um ihm einen Tritt zu geben. Doch da kam er übel an. Im Nu hatte das Tier mit den Zähnen seine Hose erfasst, und es lag Hans und der große Georges zum zweiten Male an diesem ereignisreichen Tage an der Erde. Hart waren sie nicht gebettet, aber etwas feucht, denn sie lagen in einer breiten Rinne, die den Extrakt des Dunghaufens der Wiese zuführte.
Als sie sich aus der Niedrigkeit erhoben, waren sie in einer Verfassung, dass sie ohne gründliche Reinigung nicht gut in die menschliche Gesellschaft zurückkehren konnten. Die Sonne nahm sich jedoch ihrer an und trocknete sie, allein sie vermochte nicht die beiden von einem Dufte zu befreien, der ihnen nachging wie ihr Schatten und ihren Kredit herunterdrückte. So kamen sie in übler Verfassung an die Bahn.
Der Umstand, dass bei der Fahrt Bäume und Kirchtürme lustig tanzten, unterhielt den Knaben und verscheuchte die Trauer über die schlimmen Erlebnisse. Bald stahl sich der Zug leise wie auf Gummischuhen mit einer gewissen Ängstlichkeit, die sich auch den Reisenden mitteilte, über das Gitterwerk der Rheinbrücke, schoss wie vom Teufel gehetzt durch das Dunkel der Festungswälle und hielt vor einem schmutzigen Bahnhof. »Station Mainz,« riefen die Schaffner, die Trittbretter krachten, und ein mit allerlei Gepäck beladener Menschenknäuel wälzte sich durch ein eisernes Gittertor einem kleinen Zollhäuschen zu. Hans hatte den großen Georges wieder über die Schulter geworfen und schaute entzückt ins Abendrot, das Kirchtürme, Häusergiebel und auch das Zollhäuschen in einen zarten Rosaschleier kleidete. Ganz ins Schauen verloren lief er wie ein Träumender nur immer geradeaus und kam an der Oktroibude vorüber, als er hinter sich die unfreundlichen Worte hörte:
»Wirst du dich wohl hierherbemühen, du da mit deiner Heringskiste auf dem Rücken,« und eine polternde Faust schlug ungestüm gegen ein gelbes Messingblech, das einen kleinen Holzrahmen füllte. Hans sah sich um, und als sich aus der Faust ein Finger loslöste, der ihm zu winken schien, näherte er sich dem Zollhäuschen, aus dessen Fenster ihn das bärbeißige Gesicht eines Affenpinschers mit folgender Liebenswürdigkeit traktierte:
»Denkst du Galgenvogel, dass du hier schmuggeln kannst?«
»Ha, da läuft man so für sich hin, als ob es keine Aufsichtsbehörde gäbe; übersieht großherzogliche Beamten und betrügt die Stadt um die Konsumsteuer.«
»Ja, so sind sie alle, diese Harmlosen vom Lande! Sie wissen von nichts, aber Gendarmen müsste es wochenlang regnen, wenn man all’ die Spitzbuben einsperren wollte, die hier vor der Zollbude ihr Gewissen mit Todsünden belasten.«
»Her mit deinem Bündel,« rief der Zöllner, und seine Faust, grob wie ein Steinschlegel, griff nach dem Riemen und zerrte den großen Georges pietätlos in das Innere der Zollbude.
Hans erbebte, als ob er vor dem Rachen eines Krokodils stände. Er war starr, aber nicht lange, denn als die unselige Strickleiter ihm gleich darauf vor die Füße flog, raffte er sie schleunigst auf und machte, dass er aus der gefährlichen Gegend fortkam. Er eilte der Stadt zu, die eine enge Gasse mit schmalen Häusergiebeln vor ihm auftat. Er war müde und gedrückt, und nur wenn er jemand kommen sah, der mühselig und beladen war wie er selber, so wagte er, ihn anzusprechen und fragte sich zurecht nach dem bischöflichen Konvikte. So borgt die Niedrigkeit von der Niedrigkeit und Armut beschenkt die Armut.
Endlich fand er das gesuchte Asyl auf dem Marienplatze. Es war ein stattliches, aber nüchtern und pedantisch aussehendes Haus, an dessen Fensterscheiben weiße Kattunvorhänge niederhingen und die spießbürgerliche Wahrheit verkündeten: »Fein braucht man nicht zu sein, wenn man nur sauber ist.«
An dem Äußeren hatte der Junge sich bald satt sehen, nun wollte er ins Innere. Das war schwieriger zu bewerkstelligen, als man denken sollte, denn die Türe hatte nach außen keine Klinke. Hans verstand. Das wollte ungefähr heißen: ›Hier geht niemand ein, er ruft mich denn zuvor‹. Also streckte er sich, um den Schellenzug zu erreichen. Dies gelang nicht, er war zu klein. Da der große Georges im Lauf des Tages viel von seiner Ehrwürdigkeit eingebüßt hatte, stellte er sich mit den Füßen darauf und zog an der Schelle. Das Geräusch schlürfender Tritte von Innen verkündete, dass er gehört worden sei. In den Angeln knarrte die Tür, und Hans stand vor einem geistlichen Herrn mit gewaltigem Kahlkopf.
»Du bist Hans Höhrle?« war die kurze Anrede.
»Ja,« sagte der Knabe.
»Du hast die Nummer 28. Im Studiersaal findest du dein Pult, im Schlafsaal dein Bett und deinen Stuhl, am Tisch deinen Teller, alles mit der Nummer 28.« Damit ging der geistliche Herr durch eine Seitentür und bedeutete der Nummer 28, sie möge die Treppe emporsteigen.
Hans tat es. An den Wänden hinauf hingen Haussegen, Herzjesubilder und Kruzifixe, verdorrte Kränze und Weihwasserkessel, ach so viel aufdringliche Frömmigkeit, dass es dem Knaben angst und bange wurde. Auch quälte ihn der Gedanke, dass er von einer Persönlichkeit zu einer Zahl heruntergesunken war, er fühlte den Abstand von gestern auf heute, war niedergeschlagen und wünschte nichts sehnlicher als sein Bett aufsuchen zu können. Das Essen berührte er kaum. Verschlafen machte er das Abendgebet mit. Die Responsorien schlugen aus endlosen Fernen an sein Ohr. Schweigend trabte die Herde der Schüler dem Schlafsaal zu. Hans riss das Fenster seiner Zelle auf. Sein Auge suchte die Weiten der Welt, gierig folgte