Der Graf von Monte Christo. Александр Дюма
Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur verändert. Er hatte die Direction der Festung Ham bekommen und nahm den Schließer von Dantes mit. Ein neuer Gouverneur kam an; es wäre für ihn zu lang gewesen, sich nach allen Namen der Gefangenen zu erkundigen; er ließ sich nur ihre Nummern vorlegen. Dieses furchtbare Hotel garni bestand aus fünfzig Zimmern: ihre Bewohner wurden mit der Nummer des Zimmers, das sie inne hatten, vorgerufen, und der unglückliche junge Mann hörte auf, seinen Vornamen Edmond oder seinen Namen Dantes zu führen; er hieß Numero 34.
Fünfzehntes Kapitel.
Die Nummer 34 und die Nummer 27
Dantes durchlief alle Stufen des Unglücks, welchen sich die in einem Kerker der Vergessenheit überantworteten Gefangenen zu unterziehen haben.
Er fing mit dem Stolze an, der eine Folge der Hoffnung und eines unschuldigen Gewissens ist. Dann kam er dazu, daß er an seiner Unschuld zweifelte, was die Ansichten des Gouverneur über eine Geistestörung einigermaßen rechtfertigte. Er fiel aber von der Höhe seines Stolzes herab, er flehte noch nicht zu Gott, sondern zu den Menschen, denn Gott ist die rechte Hilfsquelle. Der Unglückliche, der mit dem Herrn anfangen sollte, gelangt erst dazu, auf ihn zu hoffen, wenn er alle andern Hoffnungen erschöpft hat.
Dantes flehte also, man möchte ihn aus seinem Kerker ziehen, um ihn in einen andern zu bringen, und wäre er auch finsterer und tiefer. Eine Veränderung, und wenn auch eine unvorteilhafte, war doch immer eine Veränderung, und verschaffte Dantes wenigstens eine Zerstreuung von ein paar Tagen. Er bat, man möchte ihm den Spaziergang die Luft, Bücher, Instrumente bewilligen. Nichts von Allem wurde ihm bewilligt; aber gleichviel, er flehte immer. Er hatte sich daran gewöhnt mit seinem neuen Gefangenenwärter zu sprechen, obgleich dieser wo möglich noch stummer war, als der vorhergehende; aber mit einem Menschen sprechen, sogar mit einem stummen, war noch ein Vergnügen. Dantes sprach, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören. Er hatte es versucht, zu sprechen, wenn er allein war, aber dann machte er sich selbst bange.
In den Tagen seiner Freiheit hatte sich Dantes ein Schreckbild aus den Kameradschaften von Gefangenen, bestehend aus Landstreichern, Banditen und Mördern, gemacht, die sich in gemeiner Freude an unbegreiflichen Orgien ergötzen und furchtbare Freundschaften schließen. Jetzt kam er dazu, daß er in eine von diesen Höhlen versetzt zu werden wünschte, um andere Gesichter zu sehen, als das seines Gefangenenwärters, welcher nicht sprechen wollte. Er sehnte sich gleichsam nach dem Bagno mit seiner entehrenden Tracht, mit der Kette am Fuß und mit der Brandmarkung auf der Schulter. Die Galeerensklaven waren doch wenigstens in der Gesellschaft von ihres Gleichen, sie atmeten die Luft, sie sahen den Himmel, die Galeerensklaven waren sehr glücklich.
Er bat eines Tages den Kerkermeister, er möge einen Gefährten für ihn begehren, und wäre dieser Gefährte auch der verrückte Abbé, von dem er hatte sprechen hören. Unter der Rinde eines Kerkermeisters, so roh er auch sein mag, bleibt doch immer noch etwas von einem Menschen, dieser hatte oft im Grund seines Herzens, und obgleich sein Gesicht nichts davon sagte, den unglücklichen jungen Menschen beklagt, für den die Gefangenschaft so hart war. Er überbrachte die Bitte von Nummer 34 dem Gouverneur; aber klug, als wäre ein Politiker gewesen, bildete sich dieser ein, Dantes wolle die Gefangenen aufwiegeln, irgend ein Komplott anzetteln sich der Unterstützung eines Freundes bei einem Entweichungsversuche bedienen, und schlug ihm seine Bitte ab.
Dantes hatte den Kreis menschlicher Hilfsmittel erschöpft und kehrte, wie dies, kommen mußte, zu Gott zurück. Alle fromme, in der Welt zerstreute Gedanken, welche die unter dem Geschicke gebeugten Unglücklichen zusammenlesen, erfrischten nun seinen Geist, Er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, und fand in denselben einen ihm früher unbekannten Sinn; denn für den glücklichen Menschen bleibt das Gebet eine eintönige, leere Zusammenfassung, bis zu dem Tage wo der Schmerz dem Unglücklichen die erhabene Sprache erläutert, mit deren Hilfe er zu Gott spricht.
Er betete also, nicht mit Inbrunst, sondern mit Wut. Während er laut betete, erschrak er nicht mehr über seine Worte, sondern er gerieth in eine Extase; er sah Gott bei jedem Worte erscheinen, das er aussprach. Alle Handlungen seines bescheidenen Lebens bezog er auf den Willen dieses mächtigen Gottes, entnahm sich Lehren daraus und stellte sich Aufgaben, die er erfüllen wollte, und am Ende jedes Gebetes schlich sich der eigennützige Wunsch ein, den die Menschen viel öfter an ihre Mitmenschen, als an Gott zu richten Gelegenheit haben: Und vergib uns unsere Schuld wie wir vergeben unsern Schuldnern!
Trotz seiner heißen Gebete blieb Dantes gefangen.
Sein Geist wurde nun düster. Die Wolke vor seinen Augen, wurde immer schwerer. Dantes war ein einfacher Mensch ohne Erziehung. Die Vergangenheit war für ihn mit dem dunkeln Schleier bedeckt geblieben, welchen die Wissenschaft lüftet. In der Einsamkeit seines Kerkers, in der Wüste seines Geistes war er nicht im Stande, abgelaufene Jahrhunderte wieder zusammenzufügen, erloschene Völker wiederzubeleben, alte Städte wieder aufzubauen, welche die Einbildungskraft vergrößert und in ein dichterisches Gewand kleidet, welche riesenhaft und von dem Feuer des Himmels erleuchtet, wie die babylonischen Gemälde von Martin, vorüberziehen. Er hatte nichts, als seine so kurze Vergangenheit, seine so düstere Gegenwart, seine so zweifelhafte Zukunft: neunzehn Jahre Licht, um vielleicht in einer einzigen Nacht darüber nachzudenken. Keine Zerstreuung vermochte ihm zu Hilfe zu kommen: sein energischer Geist, der wohl nur zu gern durch Zeitalter hingeflogen wäre, war genötigt wie ein Adler in seinem.Käfig gefangen zu bleiben. Er klammerte sich dann an einen einzigen Gedanken, an den seines, ohne eine scheinbare Ursache und durch ein unerhörtes Mißgeschick zerstörten Glückes an. Er ergriff mit aller Leidenschaft diesen Gedanken, drehte ihn auf alle Seiten, und zerbiß ihn gleichsam mit gierigen Zähnen, wie in der Hölle von Dante der unbarmherzige Ugolin den Schädel des Erzbischof Robert zermalmt.
Die Wut folgte auf sein ascetisches Dasein. Edmond schleuderte Gotteslästerungen von sich, bei denen der Kerkermeister vor Abscheu zurückwich. Er raste mit seinem Leibe gegen die Mauern des Gefängnisses, er griff in voller Wut nach Allem, was ihn umgab, und besonders nach sich selbst bei dem geringsten Ärger, den ein Sandkorn, ein Strohhalm, ein Windhauch bei ihm erregte. Dann erinnerte er sich des denunzierenden Briefes, den er gesehen, den ihm Villefort gezeigt, den er berührt hatte, und jeder Buchstabe kam wie ein leckendes Feuer aus der Mauer hervor. Er sagte sich, es wäre der Haß der Menschen, und nicht die Rache Gottes, die ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er übergab diese unbekannten Menschen allen Strafen, die seine glühende Einbildungskraft zu ersinnen vermochte, und fand, daß die furchtbarsten noch zu sanft und besonders zu kurz für sie waren; denn nach den Strafen kam der Tod, und der Tod warf wenn nicht die Ruhe, doch wenigstens die Unempfindlichkeit, welche ihr gleicht.
Dadurch, daß er sich in Beziehung auf seine Feinde immer wieder sagte, die Ruhe wäre im Tode, und derjenige, welcher grausam bestrafen wolle, bedürfe anderer Mittel, als des Todes, verfiel er in die Starrheit der Selbstmordgedanken. Wehe dem, welcher auf dem Abhange des Unglücks bei diesen unseligen Gedanken stille steht! Es ist eines von den toten Meeren, welche sich ausbreiten wie der Azur der reinen Wellen, in denen aber der Schwimmer seine Füße immer mehr in einem harzigen Gefäße festkleben fühlt, das ihn allmälig hinabzieht und verschlingt. Einmal auf diese Weise gefaßt, ist, wenn die göttliche Hilfe sich seiner nicht erbarmt, Alles vorbei, und jeder Versuch, den er unternimmt, reißt ihn nur noch mehr in die Arme des Todes.
Dieser Zustand des moralischen Todeskampfes ist indessen minder furchtbar, als das Leiden, das ihm vorhergegangen ist, und als die Strafe, die ihm vielleicht folgen wird. Es ist eine Art von schwindelartigem Troste, der uns den gähnenden Schlund, in der Tiefe dieses Schlundes aber das Nichts zeigt. Bis dahin gelangt, fand Edmond eine Tröstung in diesem Gedanken. Alle seine Schmerzen, alle seine Leiden, das Gefolge von Gespenstern, welche sie nach sich zogen, schienen aus der Ecke des Gefängnisses zu entfliehen, wohin der Engel des Todes seinen schweigsamen Fuß zu setzen vermochte. Dantes betrachtete mit Ruhe sein vergangenes Leben, mit Schrecken sein zukünftiges Leben, und wählte diesen mittleren Punkt, der ihm eine Zufluchtsstätte zu sein schien.
Zuweilen sagte er dann zu sich selbst: auf meinen entfernten Reisen, als ich noch ein Mensch war, und dieser Mensch frei und mächtig anderen Menschen Befehle zuschleuderte, welche ausgeführt wurden, sah ich