THE ASCENT - DER AUFSTIEG. Ronald Malfi
erst nächstes Jahr soweit.«
»Ich bin Dozent«, setzte ich an.
»Nein, bist du nicht. Du magst mal ein begnadeter Bildhauer gewesen sein, aber du hast die Kunst aufgegeben. Du warst mal ebenso Sportler, hast aber auch den Sport aufgegeben. Und welcher kümmerliche Rest ist dir noch geblieben?« Die Intensität, mit der er mich anblickte, war fast furchterregend. »Was kommt als Nächstes?«
»Ich … weiß nicht«, lautete meine Antwort, eingeschüchtert, leise, abgehackt.
Er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst, sodass sie einen blassen, blutleeren Farbton angenommen hatten. Die Nasenflügel zitterten vor Erregung. Ich ertappte mich bei der Frage, wer damals in Pamplona mehr Angst verspürt haben mochte: Andy oder der Bulle. »Die erste Nacht in Puerto Rico. Kannst du dich daran erinnern? Wie es gewesen war, zu fliegen?«
Ich leerte meinen Drink in einem Zug und drückte die Zigarette aus. »Ich habe dir niemals das Wasser reichen können. Nie.«
»Das hatte Hannah auch nie geschafft. Aber sie tat es trotzdem.«
– 5 –
Andrew überredete mich zu weiteren Drinks und Nepal sowie das Tal der Tränen schienen vergessen. Auch Hannah war nicht mehr Gegenstand unserer weiteren Unterhaltung, was mir nur recht und billig war. Wir spielten Darts, tranken Makers Mark und fütterten die Jukebox mit ungezählten Münzen. Andrew favorisierte zweifellos die Songs von Creedence Clearwater Revival. Nach einer Weile hatte ich meine Hemmschwelle überschritten und schien damit auch den pochenden Schmerz in meinem Bein hinter mir gelassen zu haben. Ich hätte das Bein gegen eine Autotür rammen können und wäre womöglich in heiteres Gelächter ausgebrochen, so gut fühlte ich mich.
Gegen Mitternacht, nach einem kurzen Abstecher aufs Klo, kehrte ich zurück an einen leeren Tisch. Die Rechnung war bereits beglichen. Es gab kein Zeichen von Andrew. Als ob ich mir den ganzen Abend nur eingebildet hätte. Ich stakste zur Theke rüber und wollte von Ricky wissen, ob ich alles nur geträumt hatte.
»Nein, hast du nicht. Aber du hast dich gut abgefüllt. Ich werde dir ein Taxi rufen.«
Am Appartement angelangt, schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf und trat hinein in eine fade, abgestanden riechende Dunkelheit, ohne das Licht anzuknipsen. Sollte sich Hannah hier irgendwo im Dunkeln aufhalten, so hatte sie hierfür meinen Segen. Außerdem war ich betrunken. Ich wankte ungeschickt ins Schlafzimmer, schlüpfte aus meinen Kleidern und kroch unter die Bettdecke. Die Fenster standen offen und ein kühler Wind ließ die Vorhänge tänzeln.
Je näher ich dem Schlaf war, umso mehr prallten die verschiedenen Gedanken in meinem Kopf aufeinander. An einem Punkt sah ich, wie ich durch einen engen Raum kroch, meine Schultern zusammengedrückt zwischen den eng beieinanderstehenden Wänden, die immer näher rückten und ich mich schließlich dazu gezwungen sah, den Kopf auf das Brustbein zu legen. Der Grund lag verborgen unter einer schwarz schimmernden, glatten Wasseroberfläche und meine Hände wurden in dem eiskalten Wasser allmählich taub. Der Stoff meiner Hose hatte sich vollgesogen und ich konnte in der Kälte das Aufeinanderschlagen meiner Zähne hören. So kroch ich weiter, ohne zu wissen, wohin, geschweige denn, wo ich mich überhaupt befand.
Plötzlich stieß ich auf eine Mauer – das Ende des schmalen Tunnels – und Furcht drohte mir die Luft abzuschnüren. Ich versuchte, den Tunnel wieder zurückzukriechen, konnte es aber nicht. Der Versuch, mich umzudrehen, scheiterte kläglich an der Enge des Tunnels. Ein aus Klaustrophobie geborenes Entsetzen bemächtigte sich meiner, breitete sich wie eine warme, nasse Decke über mir aus und begrub mich unter ihrem Schrecken.
Ich werde hier unten sterben. Ich werde hier unten sterben. Ich werde hier unten sterben.
Ich erwachte mit einem Schrei, der sich zum Großteil noch in meinem Hals befand, und vernahm in der Ferne das Signalhorn eines Schiffes. Die Vorhänge bewegten sich weiterhin wellenförmig durch die kühl hereinströmende Brise. Mit einer Hand strich ich über die Oberfläche der Matratze und stellte beschämt fest, dass ich mich bepisst hatte.
Kapitel 3
– 1 –
Drei Monate nach unserem zufälligen Treffen im Filibuster erhielt ich Post von Andrew. Es handelte sich um eine hölzerne Kiste von der Größe einer Truhe und wurde von zwei kräftigen Männern in Arbeitsklamotten und Tragegurten transportiert. Es war inzwischen Ende November, doch auf den Gesichtern der Männer lag ein glänzender Schweißfilm, und während ich die Entgegennahme der Kiste mit meiner Unterschrift auf dem Klemmbrett quittierte, schnauften beide schwer atmend in synchronen Zügen nach Luft. Ich fühlte mich ihnen gegenüber verpflichtet, nach den Strapazen mit dem Transport der schweren Kiste etwas Wasser anzubieten. Sie nahmen das Angebot ohne zu zögern dankend an und ich konnte das trockene, klackende Geräusch hören, das aus ihren Kehlen zu vernehmen war, während sie ihre Gläser in wenigen Zügen leer tranken.
»Das ist ein ziemlich schweres Stück«, gab einer der Arbeiter zu bedenken. Eine große, tiefe Narbe verlief auf einer Seite seines Gesichtes, und die Haut auf der betroffenen Stelle wirkte körnig, ähnlich wie die Oberfläche eines zu lange stehengelassenen Puddings. »Was ist denn da drinnen?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich.
Ich konnte keine Rücksendeadresse ausmachen, weder auf der Truhe, noch auf dem kleinen Beleg, welcher auf der Truhe angeklebt war.
Der Mann mit der auffälligen Narbe bedankte sich im Namen beider für das Wasser und gemeinsam trotteten sie schwerfällig aus der Wohnung. Ich schloss die Tür hinter ihnen und lief im Gang an der Toilette vorbei, um meinen selten benutzten Werkzeugkasten zu holen. Er lag unter einem wirren Haufen Wintermäntel und ich hielt einen Moment inne, anstatt ihn sofort unter dem Wäscheturm hervorzuholen. Falls es mir nicht gelingen sollte, die Kiste dazu zu überreden, sich mit ein paar Reisnägeln und alter Kleidung öffnen zu lassen, hatte ich ein Problem. Wie ein Löwe, der seine potenzielle Beute beobachtet, ging ich um die Truhe, und wunderte mich über ihren möglichen Inhalt.
Mein Bein war inzwischen genesen und ich war nicht mehr auf die Krücken und den Rollstuhl angewiesen, aber ich schwöre, dass ich bei der Begutachtung der Kiste zumindest einen Bruchteil der mich lange plagenden Schmerzen in meinem linken Bein gespürt hatte. Es war nur eine flüchtige Empfindung, nicht wirklich besorgniserregend, aber ausreichend, um mir wieder die Ereignisse des vergangenen Jahres vor Augen zu führen.
Ich dachte an das Werkzeug, das ich beim Bildhauen benutzt hatte, und das im Bad des Schlafzimmers aufbewahrt wurde. Ich hatte die Werkzeuge nicht mehr benutzt, seitdem ich der Bildhauerei den Rücken gekehrt hatte – seit Hannahs Tod – und hatte sie beinahe vergessen.
Als ich diese Gedanken wieder beiseite fegte, stieg ich auf einen kleinen Hocker, und wühlte mich durch einen Berg aus alten Büchern, leeren VHS-Videokassetten, einem Paar alter Adidas-Laufschuhe und verschiedenen Sweatern, bis ich auf Hammer und Meißel stieß. Kurz danach stand ich in der Pose eines alten, mythologischen Gottes – vielleicht dem Gott der kaputten Beine – vor der Kiste, in den Händen das Werkzeug haltend, und registrierte einen kleinen Spalt im Holz der Truhe. Ich trieb den Meißel in den Spalt und hörte, wie das Holz ächzte. Anschließend schlug ich mit dem Hammer auf die Schlagfläche und trieb den Meißel weiter ins Holz. Das Holz gab nach, splitterte, und ich spürte, wie ein dummer, kindischer Eifer in mir hochstieg.
Nach ein paar weiteren Schlägen fiel das vordere Panel von der Kiste ab. Ein Meer aus Styroporkügelchen ergoss sich aus der offenen Kiste und umspielte meine Knöchel. Der Gegenstand in der Truhe ließ mich kurz blinzeln, als ob ich meinen Blick neu ausrichten müsste.
Es war ein massives Stück Granit, vielleicht drei Fuß hoch, zwei Fuß breit und mindestens anderthalb Fuß tief. Der Block war von dunkelbrauner Farbe, gesprenkelt mit glänzendem Glimmer, und strukturiertem, mehrfarbigen Stein. Ein zusammengefaltetes Stück blaues Papier klebte auf dem Granitblock. Ich zog vorsichtig das Klebeband ab und entfaltete den Brief. Inmitten des blauen Papiers stand ein einzelner Satz, geschrieben in der Handschrift eines sorglosen, undisziplinierten