WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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Ulysses nahm einen tiefen Atemzug. Der vollmundige Nachgeschmack des letzten Glases Rotwein vermischte sich mit der rauchigen Luft der Stadt, den bitteren Ausdünstungen der Gaslampen und dem Geruch von Pferdedung. Zwar mochten Automobile, angetrieben mit Verbrennungstechnik, seit mehr als neunzig Jahren in London Usus sein, Bahnen und Züge sogar sehr viel länger, dennoch gab es noch immer einige Firmen und Privatpersonen, die Pferde dazu gebrauchten, sie von hier nach da zu befördern.

      Mit dem Gehstock in der Hand hielt er einen Moment inne, um die bekannten – tröstlichen – Gerüche der Stadt zu genießen und den endlosen Hintergrundgeräuschen zu lauschen, die ihm versicherten, dass London lebte und es immer schon getan hatte. Da waren die lautstarken Rufe der Zeitungsjungen, die versuchten, noch die letzten Exemplare der Neuausgaben unter die Leser zu bringen, und die Rufe der Straßenhändler. Da war das Klappern von Hufen und Wagenrädern auf Kopfsteinpflaster und das Poltern von Benzinmotoren, der Lärm von Schellen und das Zischen der Überlandbahnen, wenn die Waggons über die Köpfe hinweg polterten. Das Netzwerk der Bahnen an der Cross-Town umflocht London wie das schwarze Netz einer Spinne in scheinbar endloser Verworrenheit.

      Ulysses wandte sich nach links und anstatt eine Kutsche anzuhalten, folgte er dem Geländer entlang des Green Parks und spazierte durch die sich ausdünnende Menschenmasse entlang des Piccadilly hinein in das schummrige Halbdunkel. Es fühlte sich gut an, Londons Straßen wieder unter den Sohlen zu spüren. Es erinnerte ihn daran, wo sein Zuhause war und was es bedeutete.

      Inzwischen war jene seltsame Zeit angebrochen, in der die Sonne sank und den Arbeitstag verabschiedete – zumindest für die Meisten – und die Nacht ihr wahres Gesicht mit all ihren wüsten Gelagen zeigte. Es würde also nicht lange dauern, bis andere die Stadt zu der ihren machten. Vor nicht allzu langer Zeit war auch Ulysses noch einer von ihnen gewesen. Flüchtig dachte er daran, zurück zum Inferno Club zu gehen, um den Abend dort mit Port und Zigarren zu vertrödeln, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Sein Körper schmerzte noch immer und plötzlich musste er sogar ein Gähnen unterdrücken. Sicherlich würde es noch eine Weile dauern, bis er sich von den Verletzungen seiner Reisen erholt haben würde und der Zivilisation entgegentreten konnte, zudem wirbelten Fragen über Fragen in seinem Gehirn umher. Das Dinner allein einzunehmen hatte ihn nur dazu gebracht, immer und immer wieder die Ereignisse im Natural History Museum durchzugehen und abzuwägen, um welche Art von Verbrechen es sich dabei nun genau handeln konnte, zu dessen Aufklärung man ihn verpflichtet hatte. Da waren eine ganze Menge Fragen, die nach Antworten verlangten. Warum sollte ein Dieb, der von einem Nachtwächter gestört wurde, diesen auf so brutale Art und Weise beseitigen und dabei lediglich seine bloßen Hände benutzen? Und was sollte ein schonungsloser Killer mit der Differenzmaschine aus dem Labor eines Professors der Evolutionsbiologie anfangen? Je mehr er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass man ihn geschickt hatte, um zwei unterschiedliche Verbrechen, ausgeübt von zwei verschiedenen Tätern, zu untersuchen. Doch wo verkrochen sie sich? Arbeiteten sie gar zusammen? Und was war mit Professor Ignatius Galapagos? Welche Rolle spielte er in alledem? Wo war er überhaupt?

      Mit einem Wirrwarr von Fragen und aufreibenden Gedanken in seinem Kopf fand sich Ulysses auf den Stufen zu seinem eigenen Haus wieder. Er klopfte und wurde von seinem getreuen Nimrod eingelassen.

      »Hatten Sie einen guten Abend, Sir?«, erkundigte sich der Hausdiener höflich.

      »Wir leben in einer verblüffenden Welt, Nimrod.«

      »Darf ich damit annehmen, dass Sie wieder arbeiten, Sir?«

      »Allerdings. Und zwar an einem äußerst kuriosen Fall.«

      »Und wie geht es Mr. Wormwood?«

      »Missgelaunt wie stets«, gab Ulysses zu. »Und als wäre das nicht schon genug, hatte ich auch noch eine Auseinandersetzung mit Inspector Allardyce von Scotland Yard.«

      »Wie unerfreulich für Sie, Sir.«

      »In der Tat.«

      »Soll ich Mrs. Prufrock bitten, ein leichtes Nachtmahl für sie zuzubereiten? Ich glaube, wir haben noch Haxe oder etwas Räucherlachs in der Vorratskammer.«

      »Nein danke, Nimrod, ich habe bereits gegessen. Lass uns Mrs. Prufrock doch für die Nacht freigeben«, fügte Ulysses hinzu, als ihm auffiel, dass er seine Köchin, die zugleich als Hausdame fungierte, seit seiner Ankunft nicht gesehen hatte. Allerdings war er noch nicht einmal seit vierundzwanzig Stunden zurück, nachdem er ein Jahr lang weg gewesen war. Nun jedoch wollte er einfach einen Moment für sich allein mit einem Glas herzerwärmenden Brandys in der gewohnten Umgebung seines Studierzimmers, um darüber nachzudenken, was er bisher herausgefunden hatte.

      »Sehr wohl, Sir. Dann sollte ich vielleicht anmerken, dass Sie Besuch haben. Er erwartet Sie bereits.«

      »Im Ernst, Nimrod?« Ulysses warf dem Butler einen erstaunten Blick zu. Wer sollte wissen, dass er so bald schon wieder zurück war? Dass die Neuigkeit von seiner Rückkehr bereits wie ein Lauffeuer die Runde gemacht hatte, war zwar zu erwarten gewesen, doch wer mochte wohl dermaßen unverblümt auf ihn zukommen, und dann auch noch so bald?

      »Es ist ziemlich spät für einen unangekündigten Besucher, um Audienz zu fordern, nicht?«

      »Genau das dachte ich auch, Sir. Ich legte ihr nahe, sie solle am Morgen wieder hierherkommen, doch sie blieb äußerst hartnäckig dabei, Sie noch heute Abend zu sehen, auch wenn das bedeuten sollte, dass sie warten müsse.«

      »Sie?«

      »Eine Miss Geneviève Galapagos«, sagte Nimrod. Trotz seiner gewohnt hochnäsigen Ausdrucksweise hätte er nicht weniger beeindruckt klingen können. Aus dem Tonfall seines Hausdieners konnte Ulysses heraushören, dass sein weiblicher Besucher vermutlich jung und mit Sicherheit attraktiv sein musste. Wie genau es Londons begehrtester Junggeselle mit den Damen hielt, war zwar allein seine Angelegenheit – oder, wie gewöhnlich, eher mehrere laufende Angelegenheiten – doch es war eine andere, wenn der getreue Butler so offensichtlich seine Position in der Familie Quicksilver kundtat.

      »Galapagos?«

      »Sicherlich ein ungewöhnlicher Name, Sir.«

      »Und einer, auf den ich heute bereits in einem anderen Zusammenhang gestoßen bin. Wie lange wartet sie schon?«

      »Ich glaube, es wird wohl eine halbe Stunde sein, Sir.«

      »Dann lassen wir Miss Galapagos nicht länger warten.«

      »Ich habe mir die Freiheit genommen, sie im Salon unterzubringen, Sir.«

      »Sehr gut, Nimrod.«

      Damit machte sich Ulysses auf den Weg durch die Räume, die voll mit von Tüchern bedeckten Möbeln standen, die sie steril wirken ließen und ihnen eine gewisse Formlosigkeit aufzwangen. Anders als die bekannten Räume seines Studierzimmers und vielleicht noch seines Schlafgemaches, sah das Haus derzeit eher weniger nach einem Zuhause aus. Er war einfach zu lange fort gewesen und in dieser Zeit war zu viel geschehen. Er würde noch etwas Zeit brauchen, um sich wieder einzugewöhnen, und der bestmögliche Weg dorthin war, sich wieder in das Londoner Leben zu stürzen und sich in ein Mysterium zu verwickeln, an dessen Lösung er sich festbeißen konnte. Und es schien, als hätte ihm Wormwood genau das gegeben, was er brauchte. Mit weit ausholenden Schritten, den Stock in der Hand, betrat Ulysses den Salon und erschreckte dabei die junge Dame, die sich sichtlich unbequem auf der Ecke eines ausnahmsweise unbedeckten Stuhles niedergelassen hatte, eine Teetasse in ihrem Schoß. Kein Zweifel, Ulysses Quicksilver wusste, wie man einen starken Auftritt hinlegte. Die letzte Nacht hatte das bereits bewiesen. Ein solcher entwaffnete seine Gegner und ebenso seine potenziellen Verbündeten und übertrug ihm die Kontrolle in beinahe jeder Situation.

      »Miss Galapagos, wie ich vermute.« Seine Stimme klang wie Samt, als er ihr die Hand entgegenstreckte.

      »Sie müssen Mr. Quicksilver sein«, meinte sie schüchtern durch den Schleier ihres Haares. Sie sah aus, als laste das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern, Sorgenfalten lagen auf ihrem ansonsten makellosen Gesicht.

      Sie war auf jeden Fall attraktiv, noch in der Blüte ihrer Jugend – Ulysses schätzte sie auf Anfang zwanzig. Sie hatte klar


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