WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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lösen muss. Auch können wir uns nicht länger auf Russlands Sicherheitsleistungen von einst verlassen, auch wenn es noch immer ein Prinzenstaat Britanniens ist. Es wird über uralte Blutlinien in Osteuropa gesprochen, die ihre selbsternannten Ahnenrechte durchzusetzen versuchen. Nicht zu vergessen die widerborstigen Ambitionen der Deutschen und ihrer aufrührerischen Anführer. Dann sind da auch noch diejenigen innerhalb des Empire, die ihre Gründe zu haben glauben, um das glorreichste aller Reiche, das Ihrer Majestät, anzufeinden. Zuletzt hätten wir noch das Dauerproblem auf dem Mars. Die Bewegung der Separatisten und Abtrünnigen gewinnt täglich an Stärke und Popularität. Keiner von Ihnen alleine zählt zu einer ernsthaften Bedrohung für unsere Standfestigkeit oder die Standfestigkeit des Thrones Ihrer Majestät. Aber zusammen? Die Geier kreisen schon über uns, Quicksilver, und nur herzlich wenige können etwas dagegen unternehmen. Merken Sie sich meine Worte. Die Geier kreisen … und sie sind hungrig.«

      »Kommen Sie schon, frischer Wind tut immer gut.«

      »Wie bitte?«, entgegnete Wormwood scharf.

      »Gar nichts, Minister«, seufzte Ulysses.

      »Worauf genau warten Sie dann noch? Machen Sie sich auf den Weg.«

      »Wahrhaftig? Der Tatort wird wohl warten und das Spiel läuft sowieso schon.«

      

      Kapitel 3

       Szenen eines Verbrechens

      Die Kutsche scherte in die Cromwell Road ein und hielt vor dem stattlichen Gebäude des Natural History Museum. Obwohl sie von den umstehenden modernen Bauten und den ausufernden Netzwerken der Überlandbahnen, die den Himmel beinahe ausfüllten, in den Schatten gestellt wurde, bot die gotische Fassade doch einen furchteinflößenden und zugleich beeindruckenden Anblick. Der mächtige Pfeiler der Haltestelle South Kensington ragte an der rechten Ecke des Museums empor. Das architektonische Design und die Umsetzung des Museums – es galt als Sir Richard Owens Kathedrale für die Natur und man betrachtete es als sein Vermächtnis an alle Naturwissenschaftler auf der ganzen Welt – raubten Ulysses jedes Mal erneut den Atem, wenn er es erblickte, trotz all der Wunderwerke und allen Grauens, das er bereits in seinem Leben als königlicher Agent erlebt hatte.

      Monster längst vergangener Zeiten, eingeschlossen in Stein, Pterosaurier, Quastenflosser, Katzen und Primaten, sie alle starrten durch den rußigen Dreck, der das wundervolle Gebäude vollständig bedeckte, auf ihn herab.

      Ulysses überquerte die Straße und nahm die Stufen hinauf, die ihn direkt in das Museum führten. Noch immer waren überall die Anzeichen der Polizeiarbeit sichtbar, die er wohl auch im Inneren wiederfinden würde. Ein Constable-Automat ließ seinen Schlagstock wieder und wieder mit rhythmischen Bewegungen in seine künstliche Handfläche fallen. Ulysses durchquerte eiligst das Haupttor, kam in der Eingangshalle zum Stehen und fand sich inmitten des geschäftigen Treibens der Belegschaft wieder. Scotland Yards Crème de la Crème der Inkompetenz und bestürzte Museumsbesucher schwirrten unter dem gelassenen Blick des Diplodokusskelettes umher, das die gewölbte schiffsgleiche Halle dominierte.

      Wenn man berücksichtigte, was genau hier in der vorherigen Nacht geschehen war, war es umso erstaunlicher, dass das Museum für seine Besucher dennoch geöffnet hatte, grübelte Ulysses, während er über die Haupttreppe nach oben in den Darwin-Flügel ging. Er hoffte, dass sich ihm, wenn er schon einmal hier war, ein paar Geheimnisse offenbaren würden, in erster Linie beispielsweise, warum man ausgerechnet ihn schickte, um einen Einbruchsdiebstahl und Mord im Natural History Museum zu untersuchen.

      Die Polizei hatte bereits vor Ort Einzug gehalten, um am Tatort umherzutrampeln. Der gesamte Darwin-Flügel war mit gelb-schwarz gestreiften Bändern mit dem üblichen Schlagwort Polizeiabsperrung als Tatort gekennzeichnet worden. An jeder Seite hielt ein Constable die Stellung, ihre schwarzen Körper schimmerten matt in dem faden Licht, das durch die Fenster drang.

      Ulysses näherte sich der am nächsten stehenden Polizeidrohne. Der Constable wandte sich ihm sogleich zu.

      »Verzeihen Sie, Sir, aber diese Räume sind für Besucher geschlossen.« Von irgendwo hinter seiner Brustplatte drang die knackende Stimme hervor; eine nette Imitation des Cockney-Akzentes. Flink zog Ulysses seine Hand aus der Manteltasche, brachte eine lederne Visitenkartenhülle zum Vorschein und klappte sie mit einer lässigen Bewegung des Handgelenkes auf.

      »Ich bin kein Besucher«, stellte er klar und ein schiefes Grinsen kräuselte dabei seine Mundwinkel, »Constable Palmerston«, fügte er nach einem Blick auf das Namensschild an der Brust des Automaten hinzu. Es war eine sonderbare Angewohnheit der Metropolitan Police, ihre kybernetischen Beamten mit Namen verstorbener Persönlichkeiten auszustatten. Konnte es vielleicht sein, dass die Kybernetiker von Scotland Yard etwas wussten, das dem Rest der Welt verborgen blieb?

      Der Constable scannte die Visitenkarte in ihrem Etui mit seinem Visual-Empfänger, das rote Glühen hinter seiner Augenblende surrte von rechts nach links.

      »Verzeihen Sie, Sir«, bat er um Entschuldigung. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Quicksilver?«

      »Ich würde äußerst gern den Tatort besichtigen.«

      »Natürlich, Sir.« Der Constable löste das Band und bat Ulysses in den Flügel. »Hier entlang, Sir. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann …« – »Werde ich sicherlich auf Sie zurückkommen«, beendete Ulysses seinen Satz.

      In der Haupthalle des Flügels stieß er auf mehr Polizisten – mechanische und menschliche – ebenso auf Männer ohne Uniform. Ein Team in starren weißen Laborkitteln pinselte routiniert diverse Vitrinen und hölzerne Bänke ab. Ulysses beachtete sie nicht weiter und wandte sich dem Eingang einer der weiterführenden Galerien zu, die ebenfalls von Automaten-Constables flankiert wurden und wo ein ständiges Kommen und Gehen unter den forensischen Arbeitskräften herrschte. Im Licht der Nachmittagssonne, das durch die hohen Dachfenster strömte, tanzten Staubpartikel. Ulysses betrachtete die Ausstellungsbehälter, die dahinterliegenden Türen zu den Büroräumen und Arbeitsbereichen und die Gruppe Männer, die im Zentrum des Raumes an etwas arbeiteten. Er konnte eine Gestalt ausmachen, die ungelenk inmitten einer zerschlagenen Vitrine lag.

      »He! Bleiben Sie sofort stehen!«, erklang ein Schrei direkt hinter ihm. Ulysses wandte sich um und sah einen Ausdruck des Entsetzens über das Gesicht des sich nähernden Mannes huschen. »Verflucht noch mal! Ich dachte, Sie seien tot!«

      »Und Sie haben mir ebenso gefehlt«, meinte Ulysses zu dem bleichen Wiesel in Männergestalt vor ihm, dessen rötlicher Haarschopf wie gewohnt in widerspenstiger Aufruhr von seinem Kopf abstand. »Vielleicht sollten Sie nicht alles glauben, was Ihnen die Zeitungen weismachen wollen, Inspector«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

      Einen Augenblick lang schwieg der Polizist in seinem weiten Trenchcoat. Der menschliche Sergeant, der ihn begleitete, blickte immer wieder verwirrt zwischen seinem Vorgesetzten und dem Fremden hin und her.

      »Soll ich diesen Mann entfernen, Inspector Allardyce?«

      »W-was?«, brachte der Inspector heraus. »Ja. Nein. Später«, schnappte er, ohne die Augen auch nur einen Moment von Ulysses zu nehmen. »Was wollen Sie hier, Quicksilver?«

      »Oh, das wissen Sie genau. Ich war gerade in der Stadt angekommen, als man mir mitteilte, dass ich mir auf keinen Fall die Aufstieg-des-Menschen-Ausstellung im Darwin-Flügel hier im Museum entgehen lassen dürfte.«

      »Kommen Sie mir nicht mit einem solchen Scheiß!«, knurrte Allardyce. »Was haben Sie wirklich hier verloren?«

      »Ich untersuche einen Mord.« Ulysses Stimme klang finster, sein Gesicht verwandelte sich urplötzlich in eine starre Maske. »Und Sie?«

      »Oh, haha … sehr witzig. Und warum zum Henker glauben Sie, Sie könnten meinen Mord untersuchen?«

      »Ihren Mord? Oh, verzeihen Sie, das hat mir niemand gesagt. Mein Beileid. Wohin soll ich die Blumen senden?«

      »Sie wissen genau, was ich meine, Sie arroganter Bastard.«


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