WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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süffig wie Rotwein und schneidend wie ein Rasiermesser zugleich.

      Quicksilver blickte von seinem Durcheinander aus Papierschnipseln und juristischen Dokumenten auf. Jegliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht, als er – von blankem Entsetzen geradezu überwältigt – die Gestalt auf der Türschwelle anstarrte. Screwtape wandte sich mit offenem Mund dem Neuankömmling zu. Das Bersten von Glas auf den polierten Eichenholzdielen zerriss die Stille, als des Advokaten Cognac ihm aus den schweißnassen Fingern rutschte.

      »U-Ulysses?« Der junge Mann stützte sich schwer mit einer Hand auf den Schreibtisch. Er sah aus, als würde er sogleich einer schweren Krankheit erliegen. »Ulysses … Gott sei Dank, du bist wohlauf! M-meine Gebete wurden erhört.«

      »Mir war gar nicht aufgefallen, dass du mit dem lieben Gott eine so freundschaftliche Beziehung pflegst, Barty.«

      Der Mann in der Tür war eine ungleich größere und kräftiger gebaute Version des jungen Mannes, den nur noch der große Mahagonitisch am Umfallen hinderte. Von der wohldefinierten Kinnpartie bis zu dem dichten, an den Schläfen bereits ergrautem Haar und dem funkelnden Glanz in seinen tiefbraunen Augen, war er zudem auch der Stattlichere von beiden. In jedem Fall war er ein lässig-eleganter Herr in braunem samtenem Gehrock und paisley-gemusterter Weste, die in herbstlichen Farben hervorstach – zudem trug er Moleskinhosen nach der neuesten Mode, dazu eine senfgelbe Seidenkrawatte mit diamantener Anstecknadel. Er stützte sich lässig auf einen schwarzen Gehstock, in dessen Heft ein Blutjaspis eingefasst war.

      Der Hausdiener stand ihm zur Seite, das faltenreiche Gesicht noch immer eine kalte Maske des Gleichmutes, nun jedoch mit dem Hauch eines Lächelns in seinen Augen.

      »Es scheint, es ist doch ein wenig spät für ein Treffen mit dem familiären Rechtsbeistand, Bruder«, bemerkte Ulysses Quicksilver.

      »Ulysses, ich kann noch immer nicht glauben, dass du es bist«, stammelte Bartholomew Quicksilver, während die Farbe nicht nur in seine Wangen zurückkehrte, sondern ihnen sogleich eine heftige Schamesröte verlieh.

      »Und das hier?« Ulysses durchschritt die wenigen Meter bis zum Schreibtisch und griff sich die Papiere aus Bartholomews Händen. Mit schiefem Lächeln auf den Lippen überflog er beiläufig deren Inhalt.

      »So, ihr beide wolltet mich also offiziell für tot erklären? Sieht aus, als wäre ich gerade im rechten Moment angekommen … wie gewöhnlich.«

      Gelassen bahnte sich Ulysses gemessenen Schrittes seinen Weg um den Schreibtisch und lehnte sich gegen den Kaminsims. Er blickte kurz auf das Porträt seines Vaters an der Wand über sich und warf dann die Dokumente ganz nebenbei ins Feuer hinein. Der Advokat schnappte nach Luft und Bartholomew machte einen plötzlichen Schritt nach vorn, riss sich aber sogleich zusammen.

      »Nun, ich bin noch am Leben. Damit hätte sich das erledigt. Dieser Wohnsitz ist noch immer das Eigentum von Ulysses Lucian Quicksilver, bis ich es anders erachte. Und falls ich mich dazu entschließen sollte, es als meinen letzten Willen dem Katzenschutzverein zu vermachen, sobald ich wirklich und wahrhaftig tot bin, so ist das allein meine Sache.«

      Bartholomew öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen.

      »Und falls du den Wohnanspruch, wie er in Vaters aktuellem Nachlass steht, behalten willst, Barty …«, Ulysses bedachte ihn mit einem scharfen Blick, »… so empfehle ich dir, ab jetzt zu schweigen. Verstanden?«

      Der jüngere Mann nickte, die Niederlage stand ihm ins bleiche Gesicht geschrieben.

      »Nimrod, mein Bruder wird uns nun verlassen. Würdest du wohl freundlicherweise seinen Mantel holen?«

      »Umgehend, Sir.« Der Hausdiener neigte seinen Kopf und mit ausgestrecktem Arm bedeutete er Bartholomew Quicksilver, zu gehen.

      »Mr. Screwtape wird uns nun ebenfalls verlassen«, fügte Ulysses missmutig hinzu.

      »M-Mr. Quicksilver …« Screwtape hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. »Sie verstehen sicher, dass ich lediglich mein Bestes tun wollte, um der Familie Quicksilver zu helfen, und dass ich Bescheid wusste über …«

      »Bescheid wussten? Über was? Dass ich noch am Leben bin?«

      »Na ja, Sir. Wenn ich doch nur …«

      »Was versuchen Sie mir zu sagen, Screwtape? Hätten Sie gewusst, dass ich noch am Leben bin, hätten Sie sich geeilt, um diese verachtenswerte Intrige zu Ihren Gunsten und denen meines Bruders zum Abschluss zu bringen?«

      »Nein, Sir. Ganz und gar nicht.«

      »Nimrod?«

      »Ja, Sir?« Der Hausdiener stand noch immer abwartend auf der Türschwelle zum Studierzimmer.

      »Es war ein langer Tag und ich habe eine mühselige Reise hinter mir. Ich werde mich also so bald wie möglich für die Nacht zurückziehen. Wenn du wohl so nett wärst, mir einen Cognac als Schlaftrunk zu bringen, sobald du meinen Bruder und unseren ehemaligen Familienanwalt von meinem Anwesen geleitet hast.«

      »Mit Vergnügen, Sir.« Nimrod führte beide, Bartholomew und Screwtape, aus dem Raum.

      »Mr. Quicksilver, ich muss doch protestieren«, beharrte der Anwalt und wirkte lächerlich in seiner Verzweiflung.

      »Ja, Mr. Screwtape, so mag es Ihnen erscheinen. Aber ich bestehe darauf. Und ich kann sehr nachdrücklich sein, ebenso Nimrod hier. Also schlage ich vor, Sie gehen einfach, bevor mein Wohlwollen erschöpft ist. Denken Sie auch nicht einen Augenblick daran, dass ich Ihnen dieselbe Gnadenfrist gewähre, wie ich es für meinen missratenen Bruder tue, die er lediglich allein durch die Tatsache verdient, mein Blutsverwandter zu sein, um Himmels willen. Und nun noch einmal, gute Nacht, Mr. Screwtape.«

      Der Anwalt brachte es dennoch fertig, in wütendes Gezeter auszubrechen, bis eine starke Hand ihn mehr oder weniger freiwillig dazu ermutigte, das Studierzimmer zu verlassen.

      Ulysses Quicksilver blieb allein zurück. Das erste Mal, seit er vor einem Jahr fortgegangen war, um sich in den Himalaja und noch weiter zu wagen; zu einem Unternehmen, das ihn beinahe das Leben gekostet hätte.

      Er lehnte seinen Gehstock an den Schreibtisch und ließ sich in dem gepolsterten Lederstuhl dahinter nieder; er lächelte, als seine Augen über dieselben Papierschnipsel wanderten, die sein Bruder zuvor durchgegangen war. Himalaja-Abenteuer endet mit Doppeltod, lautete einer. Immerhin hatte es Davenports Leben gekostet – der arme Unglückswurm. Suche nach vermisstem Millionär vertagt, lautete ein anderer, und Quicksilver: Entkommen oder tot?

      Nun, diese Frage würde offensichtlich beantwortet werden. Ulysses Quicksilver war zurückgekehrt. Und gleich morgen würde London daran erinnert werden, was ihm so lange entgangen war.

      

      

      

      Erster Akt

      Der Darwin Code

      April 1997

      

      Kapitel 1

       Über die Entstehung der Arten

      Die Nacht, in der Alfred Wentwhistle starb, begann wie jede andere auch. Die kühle Scheibe des Mondes schien durch die Rundbogenfenster des Museums und tauchte die unzähligen Vitrinen in bleiches Licht. Die elektrischen Straßenlampen in der Cromwell Road waren nicht mehr als ein orangefarbenes Flackern, das durch die Fenster schimmerte.

      Alfred Wentwhistle, seit sechsunddreißig Jahren Nachtwächter des Museums, fegte mit dem Schein seines Punktstrahlers über die glänzenden Schränkchen. Schimmernde Augen, hakenförmige Schnäbel und ausgebreitete Schwingen materialisierten sich für einen kurzen Moment unter dem harten weißen Lichtstrahl seiner Lampe. Der Weg über den Querbalken war ihm vertraut, die immer wiederkehrenden Bewegungen des ewigen Balletts


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